27. Oktober 2022
Der marxistische Denker und Aktivist Mike Davis ist am Dienstag im Alter von 76 Jahren gestorben. Sein Werk wird beispiellos bleiben. Doch sein Verständnis vom Sozialismus als Bewegung – nicht bloß als Idee – sollten wir in die Zukunft tragen.
Mike Davis, 2. Januar 2017.
CC BY-SA 4.0Über Mike Davis zu schreiben, ist entmutigend. Man wird vom Gefühl erfasst, nicht würdig zu sein, sich über die Arbeit eines so unglaublich brillanten Geistes zu äußern – weil man es eben auch nicht ist. Niemand ist es.
Davis, der am Dienstag im Alter von 76 Jahren verstarb, hätte es gehasst, solche Zeilen über sich zu lesen. Aber ob es ihm nun gefällt oder nicht, muss man festhalten, dass er schrieb wie kaum ein anderer. In kraftvoller Prosa verband er originelle, historisch fundierte Argumente über die Arbeiterklasse, das Wetter, den Kolonialismus, die Stadt Los Angeles und Städte auf der ganzen Welt, den Krieg, Slums, Seuchen und vieles mehr. Er hat einen riesigen Stapel an Büchern, Essays und Interviews hinterlassen. Wir bei JACOBIN hatten das Glück, auch einige seiner Texte im Laufe der Jahre zu veröffentlichen.
Davis’ Arbeit wurde mit großem Lob bedacht. Er gewann Preise wie den MacArthur »genius grant«; der Papst und Präsidenten aus verschiedenen Ländern empfingen ihn; in einem Porträt des New York Times Magazine von 1995 tauchte ein Exemplar von City of Quartz im Wohnwagen von Bruce Willis auf. Aber Davis hat sich nicht für jemand besseren gehalten, nur weil er wusste, wie man einen geraden Satz schreibt. Stattdessen führte er das Leben eines »oldschool Sozialisten«. In einem Interview aus dem Jahr 2018 erklärt er, was er darunter versteht:
»Erstens: Der Sozialismus – der Glaube, dass die Erde der Arbeit gehört – bestimmt mein moralisches Sein. In der Tat ist er meine Religion, mein Wertesystem, auf dem die moralischen Überzeugungen basieren, die mein Leben bestimmen.
Zweitens: ›Oldschool‹ bedeutet hier, Jahr für Jahr für die gute Sache zu arbeiten. In der akademischen Welt trifft man auf Leute, die sich selbst als Marxisten bezeichnen und zu vielen Konferenzen gehen, aber kaum jemals an einem Streikposten stehen, zu einem Gewerkschaftstreffen gehen, einen Stein schmeißen oder einfach nur nach einer Solidaritätsveranstaltung beim Abwasch helfen. Noch schlimmer ist, dass sie sich dazu herablassen, uns den ›echten Marx‹ zu lehren, dabei fehlt ihnen der grundlegende Respekt, den der alte Mohr [Anm. d. Red.: Spitzname für den jungen Marx, der ihm wegen seiner dunklen Haare und seines dunklen Barts gegeben wurde] dem einzelnen arbeitenden Menschen entgegenbrachte und dessen Bereitschaft, für ihre Sache ebenso zu einem armen Geächteten zu werden.
›Sozialist‹ zu sein, bedeutet letzten Endes, sich mit einer breiten Bewegung und ihrer Vision für die Gesellschaft zu identifizieren, und nicht mit einem bestimmten Programm oder Lager. Ich habe starke, wenn auch eigenwillige Meinungen zu allen traditionellen Fragen – zum Beispiel zur Notwendigkeit einer Organisation von Organisatoren (nenn es Leninismus, wenn Du willst), aber auch zu den Übeln der Bürokratie und dauerhafter politischer Führung (nenn es Anarchismus, wenn Du willst) –, aber ich versuche, mich selbst daran zu erinnern, dass solche Positionen laufend neu bewertet und an die jeweilige Situation angepasst werden müssen. Man bewegt sich immer in einer verzwickten Dialektik zwischen individueller Vernunft, die unnachgiebig selbstkritisch sein muss, und der Tatsache, dass man Teil einer Bewegung oder eines radikalen Kollektivs sein muss, um, wie Sartre es ausdrückte, ›in der Geschichte zu sein‹. Moralische Dilemmata und schwierige Entscheidungen sind dabei unvermeidbar, und man kann ihnen nicht mit der ›richtigen Linie‹ ausweichen.«
Für Davis gab es keine höhere Berufung, als sein Leben als oldschool Sozialist zu führen. Er hatte Recht: Die Linke braucht mehr Denker auf der Straße, mehr Schriftstellerinnen, die ihre Arbeit als bescheidenen Beitrag zur Sache der menschlichen Befreiung verstehen und nicht als Zeugnis ihrer individuellen Genialität – weniger Tweets und weniger Ego im Dienste des Klassenkampfes.
Davis’ gesamtes Leben war der Sache der arbeitenden Klasse gewidmet. Er kam aus einer Arbeiterfamilie und arbeitete jahrelang in einer Schlachterei und als LKW-Fahrer. Er wurde in der Bürgerrechtsbewegung und der Neuen Linken politisiert. Leider hat er nie seine Memoiren verfasst, was schade ist, denn seine Geschichten aus diesen Jahren sind durchaus erzählenswert. In seiner Zeit als Tourbusfahrer fand er sich etwa mitten in einem wilden Streik wieder und seine Genossen stimmten dafür, den Streikbrecher zu ermorden. Ein anderes Mal verließ er versehentlich seinen Tourbus und musste dann zusehen, wie dieser plötzlich leer auf eine Autobahn in Hollywood rollte. Sein erstes Buch, Prisoners of the American Dream (Gefangene des amerikanischen Traums), ist eine umfassende Auseinandersetzung mit der amerikanischen Arbeitergeschichte, in der er versucht, zu verstehen, wie die US-amerikanische Arbeiterklasse so schwach wurde (er widmete es »den Kämpfern der FMLN«, der linken salvadorianischen Guerilla, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 1986 gegen eine von den USA unterstützte Diktatur kämpfte).
Sein Werk aus den Folgejahren ist zu umfangreich, um hier aufgelistet zu werden. Davis verzichtete jedoch auf die Bequemlichkeit einer erfolgreichen intellektuellen Karriere und auf die Gesellschaft von Eliten, um stattdessen tiefgehende Gespräche mit Aktivistinnen aus den Communities, Künstlern und in den letzten Jahren vor allem mit Mitgliedern der Democratic Socialists of America (DSA) zu führen, für die er gegenwärtig der wohl einflussreichste Denker ist. Für die heutige Generation von Sozialistinnen und Sozialisten war Davis ein Bindeglied zur Neuen Linken, die ihn hervorbrachte, und zur Alten Linken, mit der er sich als Mitglied der Kommunistischen Partei im Süden Kaliforniens in den 1960er Jahren beschäftigt hatte.
Mike Davis war Sozialist in einer Zeit, in der es zutiefst unpopulär war, einer zu sein. Aber nicht nur das – als das Narrativ vom Ende der Geschichte verbreitet war und linke Ideen undenkbar wurden, gelang es ihm als Marxist durch die schiere Kraft seiner ergreifenden Prosa und Argumentation dennoch bis in den Mainstream vorzudringen. Das Festhalten am Kampf der Arbeiterklasse in einer Zeit, in der der freie Markt triumphiert hatte, war sicher eine einsame Erfahrung. Doch ein harter Kern hielt die Flamme des Sozialismus in diesen schweren Zeiten am Brennen; nicht wenige von ihnen gingen zutiefst verbittert aus ihrer jahrzehntelangen defensiven Haltung hervor.
Nicht so Davis, wie unzählige Würdigungen betonen. Zahlreiche Aktivistinnen, Denker und auch ganz normale Menschen, die mit ihm zu tun hatten, berichten, wie herzlich ermutigend und großzügig er als Lehrer war. Sein politisches Engagement wurzelte in einer Liebe zur Humanität, und sein Umgang mit Mitmenschen war Zeugnis dieser Liebe. Neben seinem umfangreichen Werk hinterlässt Davis uns dieses Gefühl der Liebe als Exempel, an dem auch wir uns orientieren sollten.
2021 schrieb ich für The Nation einen Essay über Davis. Nachdem ich mir sein Leben und seine fast durchweg düsteren Reportagen so ansah, stellte ich fest, dass zwischen den Zeilen von Davis’ letzten beiden Büchern Set the Night on Fire (Die Nacht in Brand setzen, gemeinsam mit Jon Wiener verfasst) und Old Gods, New Enigmas (Alte Götter, neue Mysterien) ein deutliches Gefühl der Hoffnung durchschimmert. »Da er sich seit langem weigert, falschen Trost zu spenden«, argumentierte ich, »wird die Möglichkeit, dass eine bessere Welt tatsächlich über die Mächte der Finsternis siegt, nicht leichtfertig angeboten.«
Davis hasste es, dass Leser wie ich ständig von Hoffnung schwadronierten. »Kämpfe mit Hoffnung, kämpfe ohne Hoffnung, aber kämpfe unbedingt«, sagte er in einem Interview. Doch in seinen letzten Werken vor dem Tod – als die Euphorie der Kampagne von Bernie Sanders abflaute, das Coronavirus die Erde überzog, der Klimawandel ungebrochen voranschritt und die Grausamkeit in Politik und Kultur die Oberhand gewannen – schien sich das Möglichkeitsfenster, das ich noch auszumachen glaubte, zu schließen.
In den abschließenden Sätzen seines letzten Artikels in der New Left Review beklagte er unsere erbärmlich festgefahrene politische Gegenwart und schien sich in seiner Verherrlichung linker Attentäter heimlich nach solchen Figuren in unserer Zeit zu sehnen: »Noch nie lagen so viel geballte wirtschaftliche, mediale und militärische Macht in so wenigen Händen. Das sollte uns dazu veranlassen, an den Heldengräbern von Alexander Berkman, Alexander Iljitsch Uljanow und dem unvergleichlichen Sholem Schwarzbard zu gedenken.«
Wer außer Davis könnte sich mit diesen Worten verabschieden? Und wer kann es ihm verdenken? Seine Worte sind nur so düster wie die Zeit, in der wir leben.
Dennoch ist er nie völlig verzweifelt – ich wünschte, dass könnte ich auch von mir behaupten. In meinen eigenen dunklen Momenten habe ich mich ironischerweise an das erinnert, was er 2020 in einem Interview im New Yorker sagte:
»Dies scheint ein Zeitalter der Katastrophe zu sein, aber es ist auch ein Zeitalter, das in einem abstrakten Sinn mit allen Werkzeugen ausgestattet ist, die es braucht. Die Utopie ist für uns verfügbar. Wenn man wie ich die Bürgerrechtsbewegung und die Antikriegsbewegung miterlebt hat, kann man die Hoffnung nie aufgeben. Ich habe in meinem Leben gesellschaftliche Wunder erlebt, die mich verblüfft haben – den Mut einfacher Menschen in einem Kampf. Vor elf Jahren holte mich Bill Moyers in seine Sendung und stellte mich als den letzten Sozialisten Amerikas vor. Jetzt gibt es Millionen von jungen Menschen, die den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen.«
Mike Davis blickte auf eine Welt, die von Ungleichheit, Seuchen, großen Bränden und steigenden Meeresspiegeln gezeichnet ist. Er täuschte uns nicht über das Elend hinweg, das er sah. Aber er sah auch die Mittel, mit denen wir dieses Elend beseitigen können – und er erblickte in ganz normalen Menschen die Fußsoldaten, die dagegen ankämpfen und dadurch Wunder bewirken können. Wir werden Davis als Autor nie ersetzen können. Aber wir können seinen gelebten Sozialismus forttragen, indem auch wir uns immer wieder dazu verpflichten, diesen Kampf zu kämpfen.