03. August 2023
Der kürzlich verstorbene Schriftsteller Milan Kundera wurde bekannt als Individualist und Kritiker der kommunistischen Einparteienherrschaft. Doch sein Werk steht auch in der reichen Tradition der sozialistischen Literatur der Tschechoslowakei.
Milan Kundera starb am 11. Juli 2023 im Alter von 94 Jahren. Foto vom 6. Mai 1963.
IMAGO / CTK PhotoMit dem Tod von Milan Kundera am 11. Juli dieses Jahres geht eine einzigartige Lebensgeschichte zu Ende, von seinem Aufwachsen in einer Musikerfamilie in Brünn über seine frühen poetischen Gehversuche bis hin zur Veröffentlichung seiner großen Romane und Essays. Möglicher- und paradoxerweise ist es aber auch so, dass hier eine weitere, ältere Geschichte zu Ende geht: die Geschichte der sozialistischen Schule der tschechischen Literatur, die den jungen Kundera prägte und deren Erbe er weiterführte – trotz seiner Kritik am Staat und seines späteren Status als Persona non grata in der Tschechoslowakei.
Milan Kundera war sowohl mit dem größten tschechischen Avantgarde-Dichter Vítězslav Nezval als auch mit dem französischen Philosophie-Verleger Bernard-Henri Lévy befreundet. Er selbst sagte, Freundschaft müsse über der Politik stehen. Und so gelang es ihm, das Beste von Nezval – einem Dichter, der einerseits surrealistische Poesie in tschechischer Sprache verfasste, andererseits eine Ode an den Diktator Joseph Stalin – ebenso zu übernehmen wie von Lévy – dem einerseits die Biografie Sartre: Der Philosoph des 20. Jahrhunderts schrieb, sich andererseits aber für westliche Militärinterventionen stark machte und allerlei medialen Unfug produzierte.
Als Dozent an der Prager Filmhochschule (FAMU) beeinflusste Kundera eine ganze Generation von Filmemacherinnen und Filmemachern. Am meisten geschätzt wurde er aber für seine Arbeit als Romanautor und Essayist.
Es mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, Kundera mit der sozialistischen Tradition in der tschechischen Kultur in Verbindung zu bringen. Hat er nicht gegen den Status quo in seinem Land rebelliert? Hat er nicht, eines der treffendsten Porträts von der Absurdität des »real existierenden Sozialismus« verfasst? Und hat er diesem Sozialismus nicht letztlich den Rücken gekehrt und sich eher einem skeptischen Individualismus und einer radikalen Distanz zu allen kollektivistischen Projekten zugewandt? Ja, all dies hat er getan. Anders als viele Mitglieder der kritischen Avantgarde, wie Vratislav Effenberger, Milan Nápravník oder Egon Bondy, kämpfte er weder für die Rückkehr eines »authentischen Sozialismus« noch für eine Rückkehr zur früheren Avantgarde-Ästhetik. Dennoch verkörperte auch er den Wunsch nach einem freien Sozialismus und die Liebe zur Avantgardeästhetik – und machte sich beides zu eigen.
In seinem Roman Das Leben ist anderswo, dem wahrscheinlich abstraktesten von Kunderas späteren Werken, muss sich der Hauptprotagonist zwischen der Avantgardeästhetik der Zwischenkriegszeit, die er von Herzen liebt, und der stalinistischen Version des Sozialismus, an die er glaubt, entscheiden. Am Ende wird er zu einem schlechten und selbstverliebten stalinistischen Dichter. Kundera vermeidet es, sich in diesem Dilemma klar für oder gegen den Dichter zu entscheiden, da er das Paradigma von vornherein für falsch hält. Mit seiner Beschreibung des unsinnigen »Lyrismus«, in dem die innere Welt des Dichters mit der äußeren Welt verschmilzt, versuchte er, das Dilemma einer ganzen Generation Jugendlicher im Stalinismus zu lösen. Er selbst sagt, er habe Tristan Tzara eine »Falle gestellt« – aber der Begründer des Dadaismus und große surrealistische Dichter beeinflusste alle seine lyrischen Beziehungen zur Realität.
Kundera zog sich ins Pathos zurück und zeigte eine Unfähigkeit, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden, und schließlich die mangelnde Fähigkeit, sich selbst mit größerem Abstand zu betrachten, sowie die Erkenntnis, dass unsere Wünsche und die Realität, die wir schaffen, in Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge sind. Man könnte sagen: »Wir brüsten uns damit, die Welt aktiv zu verändern, während wir in Wirklichkeit nur etwas unbeholfen über sie stolpern...« Kundera glaubte, dass die Stärke des Romans in seiner Fähigkeit liegt, diese Diskrepanz drastisch darzustellen. In der Lyrik können wir uns sprichwörtlich »befreien« (oder vielmehr der Realität entfliehen), aber im Roman holt uns die Realität immer wieder ein, und wir können nie sicher sein, welche Rolle wir in ihr einnehmen werden.
Dennoch: Man kann eine Tradition erben und weiterführen, selbst wenn man sich später von ihr abwendet oder sie explizit ablehnt. Auch Kunderas Individualismus baut auf einer solchen Tradition auf. Eine der prägenden Figuren der frühen tschechischen sozialistischen Kultur, Stanislav K. Neumann, begann seine Karriere in den 1890er Jahren als individualistischer Anarchist. Er betonte, dass das sozialistische Projekt nur unter der Bedingung zu rechtfertigen sei, dass es gleichzeitig die individuelle Freiheit und die kreative Arbeit erhalte und weiterentwickle. Neumann wurde später ein aggressiver Stalinist und Kundera wies seine Ideen zurück.
Doch Kundera wurde auch von anderen Persönlichkeiten der tschechischen sozialistischen Tradition beeinflusst. Noch Mitte der 1980er Jahre wies er in seiner veröffentlichten Reaktion auf die Verleihung des Nobelpreises an Jaroslav Seifert (Kritiker behaupten bis heute, dass die Preisverleihung an den tschechischen Poeten, ehemaliges Mitglied der Kommunistischen Partei und Unterzeichner der Charta 77, das Ergebnis einer Intrige hinter den Kulissen seitens der tschechischen Dissidenten war, die Kundera nicht mochten und verhindern wollten, dass er den Preis erhält) auf die Bedeutung von fünf tschechischen Dichtern hin, die in gewisser Weise mit der Avantgarde verbunden waren: Nezval, Seifert, Konstantin Biebl, František Halas und Vladimír Holan. Sie alle waren zumindest einen Teil ihres Lebens Mitglieder der Kommunistischen Partei und alle fünf setzten sich für eine Verbindung kreativer Freiheit und sozialer Gerechtigkeit ein. Ein ähnliches Dilemma findet sich übrigens auch beim großen Romancier Vladislav Vančura, einem bedeutenden sozialistischen Schriftsteller, der 1942 von den Nazis hingerichtet wurde und 1960 der Hauptprotagonist von Kunderas Habilitationsschrift Die Kunst des Romans war.
»Ein mit Freiheit und Förderung der Kultur verbundener Sozialismus war für Kundera eine Alternative sowohl zur östlichen Karikatur des Sozialismus als auch zum westlichen Kapitalismus.«
Seine Verbundenheit zur Avantgarde zeigte Kundera am deutlichsten im Vorwort zu einer Auswahl von Werken von Guillaume Apollinaire mit dem Titel Alkoholy života (Alkohole des Lebens, 1965). Ähnlich wie der Philosoph Robert Kalivoda etwa zur gleichen Zeit betonte Kundera die Bedeutung der Avantgarde-Dichtung als eine Form des utopischen »Goldschürfens« – der tiefgehenden Analyse verschiedener Formen sozialistischer Freiheit – und stellte Nezvals Konzept des »ganzen Menschen« dem des »neuen Menschen« gegenüber, das für die jungen Stalinisten der 1950er Jahre charakteristisch war. Der stalinistische »neue Mensch« war demnach eine kitschige Fantasie von einer Menschheit, die bestehende Bedingungen vollständig überwindet und sich dadurch tiefgreifend verändert. Dieses Konzept entwickelte sich aus einer grundsätzlichen Unfähigkeit, die Menschheit so zu akzeptieren, wie sie ist – und ging oft mit einem gewissen Puritanismus einher.
Nezvals (und damals auch Kunderas) »ganzer Mensch« bedeutete hingegen, die Fähigkeiten eines Menschen in der Form zu akzeptieren und zu entwickeln, in der sie im Hier und Jetzt existieren. Sowohl für Nezval als auch für Kundera bedeutete der Sozialismus eine Öffnung für das Potenzial des menschlichen Geistes und Körpers, eine »neue Renaissance«. Diese Ideen waren Vorboten des Prager Frühlings, an dem Kundera aktiv teilnahm und den er auf seine eigene Art und Weise reflektierte.
Der Schlagabtausch zwischen Kundera und Václav 1968/69 wird noch heute regelmäßig thematisiert. Das liegt nicht nur daran, dass wir dazu neigen, diese Debatte als prestigeträchtige Begegnung zweier intellektueller Prominenter zu verstehen, sondern auch daran, dass in dem Streit die Bedeutung und die Potenziale des Prager Frühlings und eines liberalen Sozialismus im Allgemeinen herausgearbeitet wurden.
Dabei war Kundera nicht auf Streit aus; er schlitterte eher in ihn hinein. Wie er sich später erinnerte, wollte er einen agitatorischen Text schreiben, der den Menschen in seinem Land klarmacht, dass auch nach vier Monaten sowjetischer Besatzung noch nichts verloren sei und dass sie den Ideen, die sie vor dem Eintreffen der Panzer entwickelt hatten, treu bleiben sollten. Kundera baute auf den Gedanken von Tomáš Masaryk und dessen (durchaus problematischer) Behauptung auf, dass kleine Nationen besondere Anstrengungen unternehmen müssen, um Bedeutung zu erlangen und an der Weltgeschichte teilzuhaben. Laut Kundera ist genau das 1968 in der Tschechoslowakei geschehen:
»Der Versuch, (zum ersten Mal in der Weltgeschichte) einen Sozialismus ohne die allgegenwärtige Macht der Geheimpolizei zu schaffen, mit freier Meinungsäußerung, mit einer wirkungsvollen öffentlichen Meinung und einer Politik, die daraus ihre Macht ableitet, mit einer modernen und sich frei entwickelnden Kultur und einem Volk, das seine Angst verloren hat: das war die Anstrengung, dank derer die Tschechen und Slowaken zum ersten Mal seit dem Ende des Mittelalters wieder im Rampenlicht der Weltgeschichte standen und ihren Ruf an die Welt richteten.«
Das klingt fast unerträglich schwülstig; man ist versucht, sich auf Havels Seite zu schlagen, der sich über Kunderas »lächerlich provinziellen Messianismus« mokierte. Havel selbst schreibt, offenbar wollten die Menschen in der Tschechoslowakei gar nichts sonderlich Bahnbrechendes: »Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind die ersten Voraussetzungen für ein normales und gesundes Funktionieren des sozialen Organismus, und wenn ein Staat versucht, sie nach jahrelanger Abwesenheit wieder einzuführen, dann tut er nichts historisch Beispielloses, sondern er versucht vielmehr, die eigene Abwesenheit von Normalität loszuwerden, er versucht einfach, sich zu normalisieren…«
Kundera fühlte sich durch Havels ironischen Ton angegriffen. Er antwortete mit einem Text, der viel über das Jahr 1968 und über Havel aussagt, in dem Kundera letzterem vorwarf, seine eigenen Moralvorstellungen zu forcieren und »nicht wirklich zu versuchen, die Fehler der anderen zu erkennen und zu analysieren«. Havel halte eine Moralpredigt und wolle positive Entwicklungen innerhalb des real existierenden Sozialismus nicht anerkennen. Ein mit Freiheit und Förderung der Kultur verbundener Sozialismus war für Kundera eine Alternative sowohl zur östlichen Karikatur des Sozialismus als auch zum westlichen Kapitalismus:
»Havel macht sich zwar keine Illusionen über den Sozialismus, aber er macht sich Illusionen über das, was er den [westlichen] ›größten Teil der zivilisierten Welt‹ nennt, als ob dort ein Reich der Normalität herrsche, das wir nur zu übernehmen bräuchten. Das Wort ›normal‹ gehört offensichtlich nicht zu den präzisesten Begriffen, aber es ist Havels Lieblingswort. Wir könnten uns darauf einigen, dass zum Beispiel die Pressefreiheit normal ist. Doch das ist lediglich ein abstraktes Prinzip, das in seiner konkreten Ausprägung im ›größten Teil der zivilisierten Welt‹ etwas ist, das überhaupt nicht normal erscheint (sondern vielmehr als etwas Entmenschlichendes, Dummes): nämlich die Herrschaft des kommerziellen Interesses und des kommerziellen Geschmacks. In ihrer Reichweite, ihrem Inhalt, ihrer Struktur und ihrer Funktion war die Pressefreiheit in der Form, wie wir sie im vergangenen Jahr in unserem sozialistischen Land zu verwirklichen begannen, ein neues gesellschaftliches Phänomen. Es gab nichts zu imitieren, es gab keine angebliche Normalität, zu der man zurückkehren konnte, alles musste neu und aus eigener Kraft entwickelt werden.«
Die Radikalität dieses Versuchs, etwas Neues zu schaffen, zeigte sich laut Kundera auch darin, dass der Widerstand dagegen so widersprüchliche Figuren wie den tschechischen Verbündeten von Leonid Breschnew, Gustáv Husák, und dessen Hauptgegner Havel zusammenbrachte, der sich eben eine Rückkehr zur »Normalität« wünschte. Kundera hielt den kurzzeitig freien Sozialismus von 1969 nicht für eine solche (versuchte) Rückkehr zur Normalität. Er sei demnach vielmehr eine zivilisatorische Alternative, in der die starken demokratischen und kulturellen Institutionen ein bisher nicht gekanntes Maß an menschlicher Freiheit ermöglichten, indem sie einerseits die negativen Auswirkungen des Staatssozialismus eindämmten und sich andererseits weigerten, von der Diktatur des Profits vereinnahmt zu werden.
Die Debatte ist bis heute aktuell, auch wenn Kundera Zeit seines Lebens nicht mehr darauf zurückkam und – nach seinen beiläufigen Bemerkungen über das Genre der Polemik zu urteilen – sich für seine Rolle in der ganzen Angelegenheit sowie für seine doch sehr Pathos-geschwängerten Formulierungen eher schämte. Wenn Sozialismus nur ohne persönliche Freiheit möglich war, dann war Kundera eindeutig der Verlierer dieses Kampfes. Wenn »tatsächliche« Freiheit aber die Diktatur des »kommerziellen Schwachsinns« bedeutet, wie Kundera sie selbst treffend charakterisierte, dann ist die westliche Alternative ebenso inakzeptabel.
Wie zahlreiche Beobachter festgestellt haben, ist diese polemische Schlacht besonders reizvoll, weil ihre Akteure später die Positionen tauschten. Als Václav Havel ein Jahrzehnt später seine Philosophie des tschechoslowakischen Widerstands entwickelte, begann er über neue Formen der Freiheit und der »Postdemokratie« nachzudenken, die nicht nur eine Alternative zum sowjetischen Sozialismus, sondern auch zum kapitalistischen Westen (den er plötzlich für abnormal hielt) bieten könnten. Über letzteren schreibt er:
»Dieser ganze Komplex von abgestandenen, inhaltlich schwammigen und politisch motivierten Massenparteien, die von professionellen Apparaten kontrolliert werden, die den Bürger aus der konkreten Eigenverantwortung verdrängen; diese komplexen Strukturen der verdeckten Manipulation und expansiven Zentren der Kapitalakkumulation; das allgegenwärtige Diktat des Konsums, der Produktion, der Werbung, des Handels, der Konsumentenkultur und der Informationsflut, all das [...] kann nicht als ein aussichtsreicher Weg angesehen werden, auf dem die Menschheit wieder zu sich selbst findet.«
Hier konstruiert Havel seine Alternative aus der Heideggerschen Philosophie und nicht aus dem »freien Sozialismus« des Prager Frühlings. Am Ende wurde er als Präsident der post-sozialistischen Tschechoslowakei aber bekanntlich zum willigen Ja-Sager eines solchen »abgestandenen Komplexes«, der von »professionellen Apparaten« und ihren »expansiven Zentren der Kapitalakkumulation« beherrscht wird.
Kundera hingegen floh und identifizierte sich später offenbar so sehr mit dem Westen, dass er letztlich ein französischer Schriftsteller wurde, der in Frankreich lebte und auf Französisch schrieb. Seine jüngeren Bücher zeichnen sich durch viel weniger Pathos aus und beschreiben den Prozess des Erwachsenwerdens, die Distanzierung des Einzelnen von kollektiven Träumereien. In einem seiner wichtigsten Essays geht er sogar noch weiter und versteht seine eigene Enttäuschung als eine Frage der kulturellen Unterschiede in Europa.
Dieser besagte Essay hieß im französischen Original Der gekidnappte Westen, während er in der deutschen Übersetzung unter dem Titel Die Tragödie Mitteleuropas (1984) bekannt wurde. Eine Verknüpfung dieser beiden Titel gibt bereits den Hinweis: Für Kundera ist Mitteleuropa der Westen, der jedoch durch politische Gewaltanwendung nach Osten gezogen worden sei. Mit dieser Sichtweise gewinnt Kundera freilich auch einen einzigartigen Ausgangspunkt: Wenn die Einheit Europas auf einer gemeinsamen Kultur beruht (womit Kundera vor allem die hohen Künste wie Literatur und Musik meint), dann wird die Kultur für eine Region wie Mitteleuropa, die unter der erzwungenen Sowjetisierung leidet, zu einem zentralen Schlachtfeld im Kampf um ihre Identität.
Die Tschechoslowakei kämpfte demnach um die Werte, die Westeuropa als selbstverständlich ansah – und deswegen verlor. In Westeuropa bedeutete die Amerikanisierung, dass man bereitwillig die Schlüsselrolle der europäischen Kultur aufgab. Diese wurde durch den Konsumismus und den Nonsens der Massenmedien zerstört. In einer solchen Lesart erinnert sich Mitteleuropa gut an den Westen vor dieser Transformation und kann deshalb als Erinnerung an die »wahren« westlichen Werte dienen. Wie Kundera in seinem Essay erinnert, waren die Literaturzeitschriften der 1960er Jahre ein Schlüsselmedium für den Prager Frühling. Würden hingegen im Frankreich der 1980er Jahre alle Literaturzeitschriften plötzlich verschwinden, würden es vermutlich nicht einmal die Autorinnen und Redakteure merken.
Es war, als ob Kunderas »provinzieller Messianismus« wieder auftauchte und sich nun auf die gesamte Region ausweitete. Das Grundthema des Essays ist eine eigentümliche Überlegenheit Mitteleuropas gegenüber den Erfahrungen Westeuropas: Mitteleuropa kenne das »Wesen des Westens« am besten, eben weil es unter extremen Bedingungen für die entsprechenden Werte kämpfen musste. In den vergangenen Jahrzehnten ist eine solche Behauptung, das »Wesen des Westens« verändere sich, immer wieder aufgetaucht. Selbst Kunderas einstiger Gegenspieler Havel hat sich in seiner Rede vor dem US-Kongress ähnlich ausgedrückt. Ein solches Wesen findet sich in locker definierten moralischen Werten und der Vorstellung, dass der Idealismus dem Realismus überlegen ist.
»Sobald sie dazu in der Lage waren, öffneten sich die mitteleuropäischen Länder der Amerikanisierung ebenso bereitwillig (vielleicht sogar noch bereitwilliger) als Westeuropa zuvor.«
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán und seinesgleichen haben dieses Verständnis auf die Spitze getrieben: Wo es einmal hieß, das »Wesen des Westens« bestehe darin, »für die Freiheit zu kämpfen«, bedeutet es in der Orbán-Ära im Wesentlichen, weiß zu sein. Die Idee von den Randgebieten des Westens, die einfach »besser« als der Rest seien, weil sie sich einem äußeren Feind stellen müssten, wurde vor kurzem im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine wieder aufgegriffen – und vom Soziologen Wolodymyr Ischtschenko treffend dekonstruiert.
Nun kann man streiten, ob Kunderas Idee und ihre Formulierung aus den späten 1960er-Jahren mutig und progressiv oder vor allem unnötig pompös waren: In jedem Fall sind seine Erklärung und seine Vision widerlegt worden. Sobald sie dazu in der Lage waren, öffneten sich die mitteleuropäischen Länder der Amerikanisierung ebenso bereitwillig (vielleicht sogar noch bereitwilliger) als Westeuropa zuvor. Auch die Menschen in Mitteleuropa brauchten plötzlich keine Literaturzeitschriften mehr und schenkten ihnen nach der Wende nicht mehr Aufmerksamkeit als die Französinnen oder Deutschen – eher weniger.
Bei Vergleichen muss es ein Gegenüber geben; und das Mitteleuropa Kunderas sieht vor allem Russland als dieses Gegenüber. Die bisweilen unerträgliche Russophobie, die wir in Kunderas Werk wie auch in den Werken vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller seiner Generation finden, hat zwei Ursachen. Die erste ist offensichtlich: Sie ist schlicht eine Reaktion auf die imperiale Eroberungsmacht aus dem Osten. Die zweite Erklärung hat mit der Stellung der Sowjetunion im Kontext der Geschichte des Sozialismus zu tun. So wie der tschechische Historiker František Palacký sich darüber beklagte, dass westliche Ideen in den tschechischen Gebieten erst durch ihre Vermittlung via deutscher Kultur ankamen, so konnten sich später die mitteleuropäischen Marxisten darüber beklagen, dass die westlichen Ideen zur Emanzipation des Proletariats erst modifiziert aus Russland ankamen – einem Land, das Marx und Engels nie als Ort betrachtet hätten, an dem ihre Ideen verwirklicht werden könnten. Die mitteleuropäischen Marxistinnen und Marxisten konnten sich so jedenfalls versichern: Fehler lagen nicht beim Marx/Engels’schen »Original«, sondern bei der fehlerhaften östlichen »Kopie«.
Gelegentlich konnte man bei den mitteleuropäischen Kommunisten klar das Gefühl einer zivilisatorischen Überlegenheit gegenüber diesem Osten lesen und hören. Nur wenige Menschen – wie Kunderas Freund, der Brünner Kommunist und spätere Dissident Jaroslav Šabata – lehnten eine solche Rhetorik ab. Der Historiker und Dissident Jan Tesař erinnerte sich in einem seiner Texte an eine Reaktion Šabatas auf eine Petition, in der es hieß, dass eine so »gebildete und kulturelle Nation« wie die Tschechen nicht »wie Tartaren« behandelt werden dürften. Er antwortete wütend, man dürfe niemanden wie Sklaven behandeln. Die meisten tschechoslowakischen Sozialistinnen und Sozialisten machten sich aber eine solche »kulturelle Erklärung« für ihre Abgrenzung vom sowjetischen Sozialismus zu eigen und damit auch eine Vorstellung von der eigenen Überlegenheit, die auf der lokalen »demokratischen Tradition« beruht, die es in Russland eben nicht gebe.
In Kunderas Vorstellung von »Mitteleuropa« zeigt sich dieser Ansatz sogar noch, nachdem er sich bereits vom Sozialismus abgewendet hatte. Fragen nach der Rolle Russlands beantwortete er eindeutig. Mit geradezu brutaler Kälte drückt Kundera seine Haltung aus, indem er den polnischen Dichter Kazimierz Brandys zitiert: »Es wäre besser für mich gewesen, ihrer Welt nie begegnet zu sein, nie zu wissen, dass sie existiert.« Diese Art von passiv-aggressiver Ignoranz ist auch heute noch üblich – und dabei nicht nur arrogant und untragbar, sondern vor allem ineffektiv. Insbesondere das inoffizielle, oppositionelle Russland benötigt heute unsere Solidarität und Anerkennung.
Andererseits will Mitteleuropa seine Andersartigkeit betonen. Es ist tatsächlich etwas seltsam, wenn die Kultur und Politik von Ländern wie Tschechien, der Slowakei oder Polen (und in gewisser Weise auch Ungarn und Rumänien) an westlichen Universitäten unter dem Begriff Slawistik studiert wird, also in einem diskursiven Bereich, der eindeutig von Russland dominiert wird. Man muss hier Kunderas Gefühl der Entfremdung zustimmen und davon ausgehend behaupten, dass es zumindest im Falle einiger Länder und ihrer Kulturen wohl passender wäre, sie innerhalb des Diskurses der Germanistik zu studieren.
Der Kern von Kunderas Denken findet sich jedoch nicht in seinen Essays, schon gar nicht in den gelegentlichen politischen Essays (Kundera verbot deren Wiederveröffentlichung, einschließlich seiner Tragödie Mitteleuropas), sondern in seinen Romanen. Er komponierte seine Werke mit einer fast musikalischen Leidenschaft.
Jan Lopatka hat darauf hingewiesen, dass Kundera in Die Kunst des Romans den Höhepunkt von Vančuras Werk in dessen Buch Bilder aus der Geschichte des tschechischen Volkes sieht – das alles andere als ein Roman ist. Was für Kundera einen Roman ausmacht, bleibt umstritten, denn er tat sich oft schwer, die Grenzen dieses Konzepts zu definieren.
Für Kundera bietet der Roman vor allem eine Ambiguität, die dem menschlichen Dasein entspricht: Im Rückblick können wir Dinge deutlicher erkennen und bewerten, aber wenn wir im gegenwärtigen Moment Entscheidungen treffen, bleiben unsere Informationen unzureichend und unsere Dilemmata verschwommen. In seiner Analyse von Anatole Frances Roman Die Götter dürsten lobt Kundera, die Beschreibung des tyrannischen Jakobiners Gamelin sei »keine Anklage gegen Gamelin«, sondern thematisiere vielmehr »das Geheimnis von Gamelin«:
»Der Mann, der am Ende dutzende Menschen auf die Guillotine schickte, wäre unter anderen historischen Bedingungen sicher ein sympathischer Nachbar gewesen […]. Wir, die wir diese abstoßenden Gamelins der Geschichte kennen, sind wir heute denn in der Lage, diese Monster zu erkennen, die in den angenehmen Gamelins schlummern, die hier unter uns leben?«
Die »Weisheit des Romans«, die Erkenntnisgewinnung, erfordert Distanz. Sie ist das Gegenteil eines Moralismus, der schreit: »Ein Schurke ist ein Schurke, Punkt.« Der Sieg eines solchen Moralismus über die Weisheit des Romans – wie es auch beim Antikommunismus der Fall ist – bedeutet ebenso den Verlust von Lernmöglichkeiten: »Das existenzielle Geheimnis ist zugunsten politischer Gewissheiten verloren gegangen; Gewissheiten interessieren sich nicht für Rätsel. Das ist der Grund, warum die Menschen, trotz des Reichtums an gelebter Erfahrung, aus historischen Prozessen immer genauso dumm herauskommen, wie sie vorher waren.«
Im Gegensatz zu einer Philosophen oder einer Dichterin bleibt der Romancier also immer etwas im Verborgenen der Realität, die er verstehen will, und der Form, mit der er experimentiert. Kundera zufolge ist der sogenannte Roman à clef – der darin besteht, reale Situationen umzuschreiben, ohne sie in der Fantasie des Autors komplett neu zu gestalten, und dessen Figuren eindeutig auf realen Personen beruhen – ein Verrat an der Gattung Roman als solcher. Der Romanautor kann die Möglichkeiten der Realität gerade deshalb erkunden, weil er sich von ihr lösen kann.
Kundera schrieb sein Buch Die Kunst des Romans zweimal und mit völlig unterschiedlichem Inhalt: einmal als Habilitationsschrift auf Grundlage einer Analyse des Werks von Vladislav Vančura im Jahr 1960 und das zweite Mal, 1986, als eine Reihe von Essays, die im französischen Exil veröffentlicht wurden. Die Analyse dieser beiden Bücher war der Ausgangspunkt für den Politologen Pavel Barša bei seinen Gedanken zu Milan Kundera in Román a dějiny (Der Roman und die Geschichte). Darin zeigt Barša, wie die Abkehr von der kommunistischen Utopie Kundera dazu brachte, das entpolitisierte Alltagsleben zu schätzen. Das habe ihn paradoxerweise – und nicht aus eigenem Antrieb – zu einem Denker oder zumindest zu einem Mitläufer des neuen utopischen Glaubens des Liberalismus nach dem Kalten Krieg, in dem die Entpolitisierung eine Schlüsselrolle spielt, gemacht. Kundera habe das entpolitisierend-individualistische Gefühl dieses historischen Moments eindrucksvoll ausgedrückt, aber laut Barša reicht das für uns heute nicht mehr aus: Vielmehr offenbart die ökologische Katastrophe den Alltag als die wohl politischste unserer Lebenssphären. Ob die Gattung Roman in einem solchen Kontext ihre Weisheit bewahren kann, bleibt abzuwarten.
Milan Kundera war kein Dissident. Oder besser gesagt: Er weigerte sich, einer zu werden. Er emigrierte 1975 nach Frankreich und verärgerte in der Emigration oft seine tschechischen Dissidentenfreunde, vor allem mit der Behauptung, dass der Widerstand gegen die Tyrannei ein Umfeld sei, in dem zwar Mut und andere gute Tugenden gedeihen, nicht aber originelles Denken. Schließlich brauche das Denken Freiheit – die Freiheit, rücksichtslos zu kritisieren. Doch wie formuliert man rücksichtslose Kritik an Freundinnen und Freunden, die unter dem Druck einer Diktatur leben? Mit einer solchen Kritik wird man leicht zu einem impliziten Verbündeten der Staatssicherheit. Die Verantwortung eines guten Dissidenten (und eines guten Freundes) steht also im Widerspruch zu der eines konsequenten Denkers. Es ist nicht überraschend, dass viele Dissidenten Kundera nicht mochten. Er verurteilte sie – zu Unrecht – dafür, nicht wirklich zu denken.
»In der kurzen Periode des Prager Frühlings standen Redefreiheit und Kunst auf einem ganz anderen Fundament als heute, wo sie der Logik des Marktes unterliegen.«
Die Auswanderung war eine schwierige Erfahrung für Kundera, aber sie bedeutete für ihn auch eine neue Version von Freiheit. Freiheit ist an sich eine Grenzerfahrung und kann zum Wahnsinn führen (dies wird eindrucksvoll in der Geschichte der Auswanderin Tamina in Kunderas Buch vom Lachen und Vergessen beschrieben). Doch gleichzeitig befreit sie einen Menschen von den Gegebenheiten der Vergangenheit und ermöglicht einen Neuanfang. Wenn wir laut Kundera die wichtigsten Entscheidungen treffen, während wir noch jung und unerfahren sind (das heißt auch: wenn wir erst einmal genug Erfahrung haben, verläuft unser Leben bereits entlang einer bestimmten Bahn), dann ermöglicht die Erfahrung der Emigration es einer Person, einige wichtige Entscheidungen ein zweites Mal zu treffen, wenn sie um die Erfahrungen des »vergangenen« Lebens in einem anderen Land reicher ist.
Kundera verarbeitet das Thema Emigration in Essays, beispielsweise dem Věra Linhartová gewidmeten, und in seinem letzten Roman Die Unwissenheit. Dieser erschien im Kontext der frühen 1990er-Jahre, als in der Tschechoslowakei die Zeit der Restauration des Kapitalismus begann. Kundera zufolge beginnt das Problem des Exils mit der Frage, ob jemand »noch« Tscheche oder »schon« Franzose sei, und sich fragt, welches Land seine Heimat ist. Demnach verlässt der Emigrant nicht ein »Irgendwo«, um in ein »Woanders« zu gehen, sondern er begibt sich in verschiedene Kombinationen aus dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen. Eine »Heimat« ist demnach genau der Zwischenraum, der durch die Emigration entsteht; Emigranten gehen in die »Heimat des Exils«.
Kunderas Bild vom »befreienden Exil« wird im realen Leben später konterkariert, beispielsweise durch seine Wiederannahme der tschechischen Staatsbürgerschaft durch den Premierminister und Oligarchen Andrej Babiš und vor allem durch ein Interview seiner Frau Věra Kunderová, in dem sie kategorisch feststellt: »Emigration ist eine wirklich schwierige Sache. Es ist das Dümmste, was ein Mensch im Leben tun kann.« Es gibt also ein großes Gegengewicht zur Freiheit des Emigranten im Exil. In Kunderas Die Unwissenheit fehlt diese zweite Seite der Migrationserfahrung völlig.
Kundera bemühte sich geradezu obsessiv, die Kontrolle über sein Werk zu behalten. Nachdem er von der Verfilmung von Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins enttäuscht war, verbot er jegliche Verfilmung seiner lyrischen Werke. Ab einem gewissen Zeitpunkt verweigerte er grundsätzlich alle Presseinterviews oder führte sie nur schriftlich. Nach einigen negativen frühen Erfahrungen war er außerdem sehr streng bei der Kontrolle von Übersetzungen – so sehr, dass er lange Zeit keine Übersetzungen seiner französischen Romane ins Tschechische zuließ. Er übersetzte die Essays selbst (ziemlich schlecht, wie viele Kritiker meinen) und betonte stets zwei Dinge: die absolute Kontrolle des Autors über sein Werk und die absolute Trennung von Werk und realer Person. Der Autor versteckt sich hinter dem Werk, bleibt aber gleichzeitig der souveräne Herrscher darüber.
Václav Bělohradský bezeichnete Kunderas Ansatz einmal als »den Traum von der absoluten Autorschaft« und wies auf dessen utopischen Charakter hin. Dieser Utopismus stellte sich heroisch dar und war (wie so oft bei Kundera) eine Verteidigung der Kombination von Freiheit und Kultivierung der Kultur. Wenn das Werk und seine Bedeutung vom Autor kontrolliert werden – und nicht von allzu erfindungsreichen Übersetzerinnen und Verlagslektoren oder oberflächlichen Journalistinnen, die über das Werk schreiben und ihm ihre eigenen Fragen, Schwerpunkte und Interpretationen aufzwingen – kann der Autor die Bedeutung seiner Arbeit besser vor einer Vulgarisierung und Verunstaltung bewahren. Dieser Utopismus widerspricht jedoch unserem Zeitgeist, in dem zunehmend die Einheit von Autor und Werk gefordert wird und die Lesenden ein Recht auf den Komfort eindeutiger, unkomplizierter und »einfach richtiger« Aussagen einfordern. Kundera gehört nicht zu dieser Ära – und das nicht nur, weil eine Reihe seiner Aussagen über Frauen (inklusive anderer Poetinnen) berechtigte Fragen über seine Misogynie aufwerfen.
Es ist schon interessant, dass der Schriftsteller Kundera zur Zielscheibe der tschechischen Antikommunisten wurde. Basierend auf einem undurchsichtigen Fall, und gestützt auf unzulänglich interpretierte »Beweise«, stellten sie ihn als einen »Informanten« der tschechoslowakischen Staatssicherheit dar. Bis heute ist jedoch unklar, ob der junge Student Kundera glaubte, den Behörden einen verdächtigen Koffer, einen möglichen Mörder in einem (unpolitischen) Kriminalfall oder einen ausländischen Agenten zu melden – oder ob er überhaupt etwas gemeldet hat. Denn das besagte Protokoll der Meldung trägt nicht seine Unterschrift.
Diese Antikommunisten applaudierten auch der boulevardesken Kundera-Biografie des tschechisch-amerikanischen Schriftstellers Jan Novák. Dieser behandelte das Leben des Schriftstellers aus der Position eines moralischen Anklägers, der nach persönlichen Fehlern sucht, und erörterte Kunderas Werk wie ein Detektiv, der verborgene Wege in das »echte Leben« aufzeigen will. Das Credo, das Novák dabei vertrat, ist vielsagend: »Ein Werk ist nur eine Art Zwischenglied zwischen dem Schöpfer und dem Leser, dem Betrachter, dem Zuhörer [...], in der Kunst ist das Werk eine Art Verbindung zwischen zwei Menschen.«
Die Vorstellung eines literarischen Werks als einem bloßen Medium zwischen zwei Menschen ist sinnbildlich für den Primitivismus, dem Kundera zu entkommen versuchte. Doch es ist eben diese Gleichstellung von Werk und Autor, die heute vorherrscht – sogar weit über die Kreise hinaus, die einst dem Biografen Novák applaudierten. Wie viele Diskussionen über Literatur und Kunst im Allgemeinen enden heutzutage als Debatte über die richtige oder falsche Haltung der Autorin oder des Autors, wie viele als Streit über deren moralische Verdorbenheit, wie viele als Versuch, die »minderwertige Moral« dieser Werkschöpfer aufzuzeigen?
Kundera übernahm viel von der großen Tradition der tschechischen sozialistischen Literatur. Er entwickelte dieses Erbe auf seine eigene Weise weiter. Neben seinem Beitrag zur Weltliteratur leistete er auch einen bedeutenden Beitrag zum internationalen sozialistischen Denken, sei es als direkt Beteiligter in den 1960er Jahren oder als späterer Kritiker. Seine wortgewaltige Kritik am »real existierenden Sozialismus« hat zu einer überzeugenden Artikulation des zeitgenössischen »real existierenden Individualismus« beigetragen, gibt aber den Sozialistinnen und Sozialisten von heute auch die Möglichkeit, darauf zu antworten. Wenn sie etwas von der klaren Einsicht seiner Romane lernen, haben sie die Chance, dass diese Antwort ähnlich überzeugend ausfällt und nicht so schematisch ist, wie es das zeitgenössische politische Denken und die Kultur manchmal zu sein pflegen.
Der Tod ist endgültig und veranlasst uns immer dazu, zurückzukehren, zurückzudenken und uns neu zu orientieren. Neben der anti-utopischen Kritik seiner Romane sollten wir uns heute vielleicht auch wieder mit der utopischen Dynamik von Kunderas Überlegungen aus den 1960er Jahren über den »ganzen Menschen« und die »neue Renaissance« sowie über den demokratischen Sozialismus beschäftigen. Denn in dieser kurzen Periode standen Redefreiheit und Kunst auf einem ganz anderen Fundament als heute, wo sie der Logik des Marktes unterliegen und sich auf die Produktion von kommerziellem Brei beschränken.
Ondřej Slačálek is Politikwissenschaftler und Kolumnist.