05. September 2022
Wann hat sich eigentlich in der SPD das letzte Mal Prinzipientreue durchgesetzt? 1885 im Streit um die »Dampfersubventionsvorlage«.
Mit seiner »Zeitenwende«-Rede wischte Olaf Scholz die letzten antimilitaristischen Traditionen der SPD beiseite. Musste er eine innerparteiliche Kontroverse fürchten? Eher nicht, obwohl Auseinandersetzungen um die Prinzipien der Partei schon seit ihrer Gründungsphase – sie hieß damals noch Sozialistische Arbeiterpartei – oft vorkamen und heftig geführt wurden. Eine solche Kontroverse entbrannte an der proto-kolonialistischen »Dampfersubventionsvorlage«, die Otto von Bismarck 1884 in den Reichstag einbrachte.
Im Wahlkampf zur Reichstagswahl im Oktober 1884 agitierte die Sozialdemokratie noch treu ihrer internationalistischen Beschlusslage gegen die deutsche »Kolonialschwärmerei«. Trotz Mehrheitswahlrecht und Sozialistengesetz gelang es ihr, den Stimmenanteil auf fast 10 Prozent und die Zahl ihrer Mandate auf 24 zu steigern. Dennoch blieben die sozialdemokratischen Abgeordneten politische Parias im Reichstag. Ihre Anträge wurden in der Regel abgelehnt, selbst solche mit »billigen Forderungen«, wie es Friedrich Engels einmal ausdrückte.
Die sozialdemokratische Fraktion diskutierte intern, wie sie mit der Dampfersubvention umgehen sollte. Die Regierungsvorlage sah vor, »Postdampfschiffsverbindungen« privater Reedereien nach Ostasien, Afrika, Australien und Ozeanien einzurichten und mit jährlich 5,4 Millionen Mark (heutiger Wert: mindestens 40 Millionen Euro) über fünfzehn Jahre zu subventionieren. Die »Postdampfschiffe« sollten zwar auch regelmäßige Postverbindungen etablieren, doch vorrangig dienten sie der Exportsicherung der deutschen Industrie. Auch der Zusammenhang mit den kolonialistischen Bestrebungen Deutschlands war evident – nur wenige Monate später begann in Berlin die sogenannte Kongokonferenz, die wie ein Brandbeschleuniger für die Kolonisierung Afrikas wirkte.
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Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.