04. Juni 2021
Nach der Russischen Revolution erfanden sowjetische Designerinnen die Mode neu. Anstatt Luxus für die Reichen entwarfen sie avantgardistische Mode für die Massen.
Warwara Stepanowa mit dem befreundeten Künstler Alexander Rodtschenko in den 1920er Jahren.
Im Herbst 1923, als Wladimir Lenin die neu gegründete Sowjetunion nur noch von seinem Sterbebett aus beobachten konnte, wurde eine der größten Fabriken Moskaus zur Wirkungsstätte zweier Künstlerinnen, die entschlossen waren, Mode für das Volk zu entwerfen.
In diesem Experiment lag ein Hauch der Verzweiflung. Nachdem Russlands imperiales Regime auf dem Höhepunkt des Ersten Weltkrieges zusammengebrochen war, begannen die politischen Kräfte, sich gegenseitig zu bekriegen. Die üble Allianz von Monarchisten, Großgrundbesitzern und Generälen, die um die Position des Obersten Führers wetteiferten, wurde schließlich von der Roten Armee besiegt. Millionen russischer Menschen wurden getötet oder verhungerten; die Industrieproduktion brach ein und erreichte nur noch einen Bruchteil des Vorkriegsniveaus.
Insofern konnte in der Ersten Staatlichen Baumwolldruckerei, so die postrevolutionäre Bezeichnung, nur noch wenig schiefgehen. Doch als der Direktor der Fabrik Ljubow Popowa und Warwara Stepanowa – eine vermögende Malerin und eine aus der arbeitenden Klasse – in die Einrichtung einlud, tat er das nicht, weil er annahm, dass die beiden die unglückliche Ausgangslage schulterzuckend hinnehmen würden. Er glaubte an die beiden Künstlerinnen und an ihre Bewegung, die die Position vertrat, dass sowjetische Künstlerinnen und Künstler die Waren des täglichen Lebens neu erfinden müssten. Es ging darum, die Ökonomie des Begehrens zu kollektivieren. Die Arbeitenden, so ihr Standpunkt, sollten nicht nur Brot, sondern auch Satin bekommen.
»Ich wollte tatsächliche Objekte produzieren«, sagte Stepanowa einem Interviewer der Theaterzeitschrift Zrelishcha, »eine vollständige materielle Umgebung, in der das lebende menschliche Material agiert.« Viele ihrer konstruktivistischen Weggefährtinnen und -gefährten kamen auf demselben Weg zu dieser Erkenntnis. Sie gehörten zu der Moskauer Avantgarde der späten 1910er Jahre und spielten mit Formen der Abstraktion. Jetzt wollten sie »den heiligen Wert« des einzelnen Kunstwerks »zerstören«.
Die Konstruktivistinnen hatten eine Vorliebe für Plakate, Fotomontagen und das flimmernde Licht des Kinos – allesamt Dinge, die in Massenproduktion hergestellt wurden. In ihrem Buch Imagine No Possessions: The Socialist Objects of Russian Constructivism schreibt die Kunsthistorikerin Christina Kiaer: »Die konstruktivistische Ästhetik war ein Versuch, den Körper des sozialistischen Subjekts durch geeignete Formen moderner Objekte zu bereichern – die industrielle Technologie sollte die sensorische Erfahrung der Nutzenden erweitern, statt sie zu betäuben oder einzulullen, wie es im Kapitalismus der Fall war … in dem der sensorische Schock der Fabrik, der Eisenbahn, der Metropole zu einer Abstumpfung der Sinne geführt hatte.«
Im Unterschied zu ihrer älteren Freundin Popowa war die Reaktion auf Stepanowas Gemälde eher verhalten: Der russisch-französische Modernist Marc Chagall bezeichnete etwa ihre einzige Ausstellung in einer Galerie, bei der Moskauer Staatsausstellung 1920, als »aus dem Gleichgewicht geraten« und »unbändig«. Als ich vor Jahren eines dieser Gemälde im New Yorker Museum of Modern Art erblickte, war ich faszinierte davon, wie die abgewinkelten Linien Bewegung andeuteten und wie die Form der tanzenden Figur die Farben umherwirbelte. Ungeachtet der kritischen Gleichgültigkeit, mit der Stepanowas Malerei bedacht wurde, war sie vor allem für ihre Kostüme bekannt, die sie für experimentelle Theaterstücke entwarf. Sie war der Auffassung, dass jeder Beruf seine eigene maßgeschneiderte Uniform haben sollte – was ihr vorschwebte, war ein Festzug der Arbeit.
Dieser Traum blieb unerfüllt, aber ihre Kreationen verwandelten Funktionalität in ein ästhetisches Spektakel. Stepanowas Kleider zeichneten sich durch ihr leichtes Material und einen bequemen Schnitt aus. Die Stoffe, die sie verwendete, legten sich in geometrischen Formen gitterartig übereinander. Eines ihrer Modelle wurde von der Fabrikleitung abgelehnt, weil es »wie eine U-Bahn« aussah und einen Zoetrop-Effekt, ähnlich einem U-Bahn-Tunnel, erzeugte.
Luxus kann nie losgelöst von der Geschichte betrachtet werden – vor allem dann nicht, wenn zeitgemäße Mode zu einer staatlichen Angelegenheit wird. Peter der Große, dem sein Zarenreich viel zu schäbig war und der sich nach einem moderneren Reich sehnte, ordnete 1701 an, dass die Menschen Moskaus von nun an deutsche Kleidung tragen sollten. Wer beim Verkauf traditioneller Kleidung erwischt wurde, musste mit einer »schrecklichen Strafe« rechnen – ein bedrohliches Versprechen, wenn man bedenkt, dass Peter selbst seinen eigenen Sohn zu Tode folterte.
In ihrem Buch The Empire’s New Clothes von 2009 dokumentiert die Kunsthistorikern Christine Ruane, welchen Einfluss die Mode auf die russische Politik in dieser Zeit hatte: Die Regierung erlaubte zunächst den freien Handel mit ausländischer Kleidung, um deren Verkauf zu fördern, verhängte später jedoch hohe Zölle, um die heimische Industrie zu schützen. Wie die übrige Presse wurden auch die potenziellen Vorläufer der Vogue mit Argwohn betrachtet; von der Zensur wurde einmal eine Kurzgeschichte über die Französische Revolution als »ungeeignet« für solche Blätter erklärt.
Als die Romanow-Dynastie 1905 ins Wanken geriet, marschierten Hunderte Verkäuferinnen aus den Bekleidungsgeschäften durch die Straßen Moskaus, die nur Monate später von Rebellen verbarrikadiert wurden. Ruane verweist darauf, dass die Arbeitenden in der Textilindustrie häufig »den radikalen Kern« linker Gruppen stellten: Während ihrer Lehrjahren machten sie sich mit der Stadt vertraut, und wenn ihre Meister sie mit einer Lieferung losschickten, begegneten sie der Bourgeoisie in ihren eigenen Häusern.
Ein Streik der Schneiderinnen und Näherinnen von St. Petersburg weitete sich zu einem breiten Streik aus, den der Staat zu unterbinden versuchte, indem er die Gewerkschaftsführenden verbannte. »Vielleicht als Rache«, schreibt Ruane, »brachen Diebe in das Bekleidungsgeschäft Wiener Chic ein … Sie stahlen Artikel im Wert von Tausenden von Rubeln und zerstörten die Ware, die sie da ließen.« Man stelle sich dazu Arbeitende vor, die in gestohlen Pelzen posieren – Prinzessinnen und Grafen einer entgegengesetzten Aristokratie.
Für viele russische Konservative galt die Mode als moralisch verdorben, weil sie den Frauen einen gewissen Grad an Freiheit verschaffte. Christine Ruane zitiert an dieser Stelle den rechten Journalisten Iulii Elets, der im Jahr 1914 Folgendes in seiner Publikation Epidemic Insanity: Toward the Overthrow of the Yoke of Fashion schrieb:
»Dieses Buch über die brennendste und schmerzlichste Frage des modernen Gesellschafts- und Familienlebens ist ein aufrichtiges Klagelied darüber, wie Frauen sich mit hässlichen und absurden Kleidern entstellen, wie sie damit riesige Geldsummen erbeuten, wie durch ständige Gelüste nach dem neuesten modischen Unsinn Ausschweifung und Zerrüttung in die Familien einziehen, wie bunte Lumpen die Leere in den Köpfen und Herzen der Frauen heranzüchten, wie viele Verbrechen wegen der sinnlosen Gesetze der Mode begangen werden und wie viele Menschen daran zugrunde gehen!«
Mit der Revolution geriet auch die imperiale Opulenz aus der Mode. Aber die Frage blieb: Was ersetzt die ersehnte Bluse oder das Radio, wenn der Markt nicht mehr existiert? Künstlerinnen wie Stepanowa gingen einen anderen Weg als die eher asketischen Kommunistinnen und Kommunisten und entwickelten eine neue Form des Materialismus. Sie wollte Dinge herstellen, die dem Leben um sie herum entsprachen – ihre Kreationen betrachtete sie als Mitarbeitende, nicht gehorteten Klimbim. Sozialismus, aber eben modisch.
»Das Licht aus dem Osten ist nicht nur die Befreiung der arbeitenden Klasse«, schrieb Stepanowas Freund Alexander Rodtschenko. »Das Licht aus dem Osten ruht in der neuen Beziehung zu Personen, Frauen, Dingen. Unsere Dinge in unseren Händen müssen Gleiche sein, Genossen, und nicht jene … traurigen Sklaven, die sie hier sind.«
In dem Kulturkritiker Walter Benjamin fanden die Konstruktivistinnen und Konstruktivisten einen ausländischen Verbündeten, der in der Massenkultur revolutionäres Potenzial sah. Er beschrieb solche Neuentdeckungen sehr schön als »das, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt.« Benjamin sprach der Mode eine fast mystische Kraft zu:
»Jede Saison bringt in ihren neuesten Kreationen irgendwelche geheimen Flaggensignale der kommenden Dinge. Wer sie zu lesen verstünde, der wüsste im Voraus nicht nur um neue Strömungen in der Kunst, sondern um neue Gesetzbücher, Kriege und Revolutionen. Zweifellos liegt hierin der größte Reiz der Mode, aber auch die Schwierigkeit, ihn fruchtbar zu machen.«
Im unvollendeten Passagen-Projekt, Benjamins literaturhistorisch-marxistischer Collage über das Treiben in Ladenpassagen, stößt man auf folgendes Fragment: »Das ist so wahr, dass das Ewige jedenfalls eher eine Rüsche am Kleid ist als eine Idee.« Über den Kreislauf des Stils kann die Geschichte in den unmittelbaren Moment hereinbrechen.
Der Kapitalismus verschleiert die Herrschaftsverhältnisse, die ihn antreiben. So unterschlägt er auch das Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart und verwandelt selbst das schönste Ornament zu einem starren Gebilde. Er entreißt Objekte aus ihrem sozialen Kontext, aus der sinnlichen Welt. Wir befreien sie für einen kurzen Moment, wie eine Träumerin, losgelöst von der Schwerkraft: Befreundete, die ein Feuerzeug herumreichen, Liebende, die ihre Kleidung teilen. Die meisten meiner Lieblingsoutfits habe ich aus zweiter Hand, und ich denke oft über die Menschen nach, die sie entworfen, genäht und getragen haben.
Der gigantische Reichtum und der ökologische Raubbau, den die Fast-Fashion-Ketten zu verantworten haben, beruhen auf unsichtbarer, kräftezehrender Arbeit. Die Soziologin Madison Van Oort beschrieb einmal, dass sie in einem solchen Laden arbeitete und nicht in der Lage war, das ständig wechselnde Warenangebot zu überblicken: »Ich wanderte in Kreisen in meiner Abteilung herum und versuchte andauernd, eine Bluse zu finden, von der ich wusste, dass ich sie kurz zuvor gesehen hatte.« An der albtraumhaften Logik des Kapitalismus scheitert selbst die Verkäuferin in ihrer eigenen Boutique.
Diesem System entsagte auch die Sowjetunion nicht vollends, in der Konstruktivistinnen und Konstruktivisten damals lebten: In den 1920er Jahren erlaubte die Sowjetunion aufgrund ihrer wirtschaftlichen Notsituation in begrenztem Ausmaß privates Unternehmertum. Kapitalisten war es daher möglich, riesige Summen zu verdienen. Das Schaffen der ehemaligen Malerinnen und Maler wurde von der bolschewistischen Führung zwar zähneknirschend geduldet, finanzielle Unterstützung gewährte man ihnen aber kaum. »Die Geschmäcker sind verschieden«, sagte Lenin einmal zu einer Gruppe von Avantgarde-Kunstschaffenden. »Ich bin ein alter Mann.«
Der konstruktivistische Architekt Wladimir Tatlin entwarf das Monument der Dritten Internationale, eine sich um die eigene Achse drehende Doppelhelix, von der aus alle möglichen Medien verbreitet werden sollten. Das Monument wurde nie verwirklicht und blieb ein maßstabsgetreues Modell – und selbst dafür musste bekanntlich Holz verwendet werden. Die meisten Ideen, die die Bewegung entwickelte, teilten das gleiche Schicksal, sie blieben Blaupausen und Prototypen. Aus Trümmerhaufen erdachten die Konstruktivistinnen und Konstruktivisten riesige Maschinen, Landschaften aus Glas und Stahl, Manifeste, die in den Himmel strahlten: eine Fantasie der Moderne. Wenn sie ein von Popowa und Stepanowa entworfenes Kleid trugen, konnten die einfachen Leute dieser Fantasie näherkommen.
Es ist verlockend, sich diese Welt wie ein verhindertes Paradies vorzustellen, aber das käme einem politischen Verrat gleich. Die konstruktivistischen Künstlerinnen und Künstler wollten sich mit der Gegenwart auseinandersetzen, auch wenn sie sich ihr widersetzten. Sie waren die pragmatischsten aller Utopisten: Im Anschluss an seinen nie erbauten Turm machte sich Wladimir Tatlin daran, einen effizienten Holzofen zu konstruieren. Und Stepanowa schrieb: »Das Kleid von heute muss in Gebrauch gesehen werden. Jenseits davon gibt es kein Kleid, so wie die Maschine nicht außerhalb der Arbeit, die sie verrichten soll, verstanden werden kann.«
Sie war außerdem der Meinung, dass die Emanzipation der Frau durch die Mode sichtbar wurde. Die androgynen Schnitte, hypnotisierenden Gitter und Spiralen von Stepanowas Entwürfen verstießen gegen die damaligen Konventionen. Das gilt ebenso für Popowa, die einmal ein Muster entwarf, das aus schicken kleinen Hämmern und Sicheln bestand. Dem Kritiker Jakow Tugendhold zufolge stürmten sie so »die Bastille des Fabrik-Konservatismus«.
Das Experiment in der ersten staatlichen Baumwolldruckfabrik hielt nur ein oder zwei Jahre an. Obwohl Popowa und Stepanowa gehofft hatten, in die Produktion einsteigen zu können, wurde ihnen dafür keine Zeit zugebilligt; die Fabrikleitung zögerte noch, zwei Außenstehende vollends zu akzeptieren. Dennoch wurden ihre Entwürfe populär, man beachtete sie in ganz Moskau und weit darüber hinaus.
Popowa sagte 1924 – an Scharlach erkrankt, derselben Krankheit, an der bereits ihr Kind gestorben war –, sie sei als Künstlerin am zufriedensten, wenn ein Bauer oder eine Arbeiterin ihre Muster kaufte. In Imagine No Possessions fasste Kiaer die sozialistische Vision Stepanowas mit folgenden Worten zusammen: »Kleidung wird nicht dann aus der Mode fallen, weil der Markt neue Moden hervorbringt, sondern weil sich die Bedingungen des Byt [des Alltagslebens, vor allem im Sinne banaler Schufterei] verändert haben und neue Arten der Kleidung erfordern.«
Das bekannteste Foto von Stepanowa zeigt sie mit einem Zirkel in der Hand und einer Zigarette zwischen den Lippen. Die Konstruktivistinnen machten sich gerne über ihre eigene heldenhafte Selbstdarstellung lustig, aber in diesem Fall übernahm das der Betriebsrat für sie: Sie fanden es urkomisch, dass eine Künstlerin solche Hilfsmittel brauchte, um eine Linie zu zeichnen. Sie begriffen nicht, dass Stepanowa auf diese unnatürliche Weise zeichnen wollte. Mich begeistert jedoch ein anderes Foto: Stepanowa raucht eine weitere Zigarette, den Arm hinter dem Kopf verschränkt, schaut halb lächelnd in die Kamera. Man kann erkennen, dass es von ihrem Liebhaber aufgenommen worden sein muss. Das Bild ist hundert Jahre alt, aber es ist so zeitlos, dass es auch erst vor einer Stunde aufgenommen worden sein könnte.
»Mode schafft ein Abbild der dominierenden Linien und Formen einer Zeit«, schrieb Stepanowa einmal, »der äußeren Merkmale einer Epoche. Sie wiederholt niemals die Formen, die es bereits gibt«. Ihre Kleidungsstücke sind in Vergessenheit geraten, zusammen mit der konstruktivistischen Utopie, der sie mit ihren Kleidern Glanz verleihen wollte. Aber wir können sie als eine Art Wurmloch nutzen, durch das wir unter neuen Blickwinkeln in die Historie eintauchen können. Ein Leben in der permanenten Apokalypse, das Schaffen im Untergrund – all das war nie unvermeidlich. Wie sieht der Prunk aus, wenn es kein Imperium gibt, das ihn hortet? Welche Uniformen werden die Menschen tragen, wenn es keine Klassen mehr gibt? Schemenhaft erkennen wir in diesen Fragen vielleicht eine glänzende Welt, die noch vor uns liegt.
Chris Randle ist Autor aus Toronto, der für »Globe and Mail«, »the National Post«, das »Comics Journal«, »Social Text«, »Village Voice« und »The Awl« geschrieben hat.
Chris Randle ist Autor aus Toronto, der für »Globe and Mail«, »the National Post«, das »Comics Journal«, »Social Text«, »Village Voice« und »The Awl« geschrieben hat.