13. September 2021
Die Mittelklasse liebt sehr gewöhnliche Dinge in sehr besonderer Ausführung. Ein Erklärungsversuch über den Drang zur Abgrenzung.
»Alle alltäglichen Lebenserfahrungen werden mit einer Bedeutung aufgeladen, die anderen Klassen fremd ist.«
Wer schon einmal durch ein attraktives Großstadtviertel spaziert ist, dem mögen sie aufgefallen sein: Boutiquen, die ausgewählte Zimmerpflanzen in handgetöpferter Keramik oder gold glänzenden Übertöpfen anbieten. Als ich einmal ein solches Geschäft betrat, wirkte alles dort besonders, erlesen und bedachtsam kuratiert. Dieser Eindruck täuschte nicht, wie mich das freundliche Ladenpersonal wissen ließ. Wirklich jeder dieser Übertöpfe sei einzigartig, von Designerinnen aus aller Welt entworfen.
Unweit dieses Ladens gibt es ein Café, das sich auf Verkauf und Verarbeitung von qualitativ hochwertigem Kaffee spezialisiert hat. Alles von der Röstung bis zur Zubereitung geschieht vor Ort. Es gibt keine Theke, an der man schnell einen Espresso trinken könnte; es gibt auch keinen Vollautomaten. Stattdessen tröpfelt der Kaffee gemächlich durch eine aufwendige gläserne Filterkonstruktion. Diese Brühzubereitung stellt sicher, dass der Kaffee perfekt temperiert ist und sein komplexes Aroma voll entfalten kann.
Wenige Meter weiter bietet ein Geschäft besondere Biersorten an. Die Flaschen werden in Regalen präsentiert wie edelste Feinkost, das Bier nur in kleinen Mengen gebraut. Die Message: Charakterlose Massenplörre aus den Großbrauereien wird hier nicht angeboten. In derselben Straße vertreibt eine minimalistisch eingerichtete Bäckerei hochwertiges Brot. Die Auswahl ist klein, alles kommt aus ökologischem Anbau, hinter der Kasse kann man die Öfen erspähen. Hier sind Brot-Connaisseure am Werk.
Zimmerpflanzen, Kaffee, Bier, Brot – alles sehr alltägliche Dinge. Doch die Aufbereitung signalisiert, dass diese Produkte nichts mit den seelenlosen, standardisierten Waren gemein haben, die man im Supermarkt erstehen kann. Sie machen den Eindruck, Objekte von besonderem kulturellen Gehalt zu sein – und vermitteln obendrein einen gewissen normativen Wert: Der Anbau der Zutaten ist nachhaltig, die kosmopolitische Hintergrundgeschichte der Übertöpfe zeugt von Weltoffenheit, die Art der Zubereitung des Kaffees verweist auf ein besonderes Genussempfinden. Durch den Konsum dieser Objekte beweist man sich als Person, die einen ausgesprochen kulturalisierten Lebensstil pflegt und über die nötige ästhetische Bildung verfügt, um all das wertschätzen zu können. Und dieses Wissen wiederum verortet einen recht eindeutig als Teil der Mittelklasse. Was hier durchschimmert, ist ein spezifischer Elitismus – und der ist historisch gewachsen.
»Ich bin seit langem der Meinung, dass die sozialistische Bewegung in hohem Maße durch die Anwesenheit von Spinnern und Verrückten behindert wurde, die nicht für die Sache des Sozialismus in der Bewegung waren, sondern weil sie in ihr eine Möglichkeit sahen, um ihren Theorien über Sexualität, Religion, Impfungen, Vegetarismus etc. Luft zu machen«, schrieb der irische Gewerkschafter James Connolly schon im Jahr 1904. Die Frage nach der richtigen Lebensführung trieb die Mittelklasse also schon vor über hundert Jahren um. Wie das Zitat nahelegt, machte sie dabei ein dezidiert progressives Wertesystem zum Maßstab. Paradoxerweise wurde aber gleichzeitig eine fortschrittliche Umgestaltung der Gesellschaft im Sinne der arbeitenden Mehrheit blockiert. Wie ist das zu erklären?
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Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.