01. November 2020
Peter Grottian war kein normaler Professor. Als Aktivist und Lehrer zugleich war er für viele eine Inspiration. Ein Nachruf eines Schülers.
Peter Grottian (1942-2020)
Ich sah Peter Grottian das erste Mal im Berliner Sozialforum Anfang der 2000er Jahre, als sich dort eine neue außerparlamentarische Opposition bildete. Sofort war klar: Peter Grottian war kein normaler Professor.
Seine Seminare am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin waren Pflichtprogramm für uns linke Studierende: als sehr speziell und legendär verschrien. Meine Erwartungen an eine ordentliche marxistische Theoriesausbildung waren aber schnell enttäuscht. Er interessierte sich mehr für das, was draußen in der Stadt los war als für die Textexegese der Klassiker in der akademischen Oase. Als in den 2000er Jahren die Massen den G8-Gipfel belagerten und mit der globalisierungskritischen Bewegung die Linke ihre historische Depression nach 1989 weltweit endlich hinter sich ließ, brannte sein Herz für das, was sich an politischen und sozialen Widerstand tat oder eben tun musste. So schickte er uns Studierende in die Stadt, wir sollten den Berliner Bankenskandal untersuchen, die Initiativen der Erwerbslosen besuchen, an Aktionstrainings teilnehmen und selbst welche organisieren, am Puls des Widerstandes sein statt vergraben in den Bibliotheken.
Ich war Ende 2001 frisch nach Berlin gezogen, versuchte mich politisch zu orientieren und schaute mich in der Stadt um. Wo auch immer es größere Ansammlungen gab, Peter Grottian war am Start. Wenn er ans Mikrofon kam, änderte sich der Energiepegel im Saal schlagartig.
Er war ein Antreiber, dabei stets analytisch und immer daran interessiert, Argumente zu entwickeln. Er war sehr ernst in der Sache, hatte aber auch Humor, man lachte viel mit ihm. Er war immer dafür, Aktionen sofort durchzuführen und nicht zu warten. Bei den Abwägungen, wie weit wir mit Aktionen eskalieren sollten, war er immer für die maximale Konfrontation. Er war im besten Sinne das, was die Franzosen »militant« nennen. Gleichzeitig hatte er die besondere Gabe, aufgrund seiner weichen Persönlichkeit Versammlungen zu moderieren und zusammenzuhalten.
Das konnte er, weil er das besaß, was man Konsistenz« nennen könnte. Sein Leben stand authentisch dafür, was er politisch vertrat. Sein Verhalten stand im Einklang zu seinen Ansichten – und das bei dieser ewig langen politischen Biographie. Wenn er angefragt wurde, vor einer noch so kleinen Initiative von Erwerbslosen in einem noch so kleinen Ort zu sprechen, gab er alles, um ihnen zu helfen. Er scheute keine Mühe, auch im hohen Alter nicht. Er spendete einen erheblichen Teil seines Professorengehalts, damit eine weibliche Professur an der Uni eingerichtet werden konnte, um die katastrophale Genderbalance endlich anzugehen. Er fühlte nicht nur das, was er sagte, er lebte es.
2002 brachen die großen Streiks an den Berliner Unis aus, und natürlich war Peter mit dabei. Er motivierte die Studierenden und trieb sie an, die Grenzen zu überschreiten, die seiner Ansicht nach ihre Entschlossenheit blockierten. Er war – ganz im Geiste der neuen Generation der globalisierungskritischen Bewegung – ein Mentor für den zivilen Ungehorsam. Eine Idee, die damals wohltuend war gegen all den Frust, der das Versagen der Regierungspolitik der Parteien links der Mitte mit sich gebracht hatte.
Es bildete sich ein einzigartiges Bündnis in Berlin zwischen einer neuen Generation politisierter Studierenden mit den neuen und alten sozialpolitischen und globalisierungskritischen Initiativen. Immer wieder waren Zigtausende auf der Straße, um dann in der legendären Demo am 1. November 2003 bis zu 100.000 Menschen gegen die Agenda 2010 zu mobilisieren. Peter war Antreiber und zugleich Scharnier in dieser neuen außerparlamentarischen Bewegung. Er war präsent und beliebt an der Uni, bei Attac, aber auch bei seiner großen Herzensangelegenheit: den Erwerbslosen-Initiativen. Er war das personalisierte Sozialbündnis.
»Er fremdelte mit Institutionen, den Gewerkschaften, Sozialverbänden oder linken Parteien, aber hier war er in seinem Element: all seine Vorstellungen bauten darauf, dass die Betroffenen sich selbst organisieren.«
Sobald wir nach einer gelungenen Aktion in Selbstzufriedenheit gerieten, schritt er ein und mahnte uns. Ich weiß, wie mich das ab und zu nervte, aber später verstand ich ihn: er war nicht nur da, um die Reibungen zwischen uns einzuölen und uns zusammenzuhalten, er war die Reibung selbst, die uns aktivistisch antrieb.
2004 geschah dann das unerwartete: spontane, nicht verwaltete Massenbewegungen von Arbeitslosen gegen Hartz IV. Peter war begeistert und natürlich ununterbrochen dabei. Er fremdelte mit Institutionen, den Gewerkschaften, Sozialverbänden oder linken Parteien, aber hier war er in seinem Element: all seine Vorstellungen bauten darauf, dass die Betroffenen sich selbst organisieren. Er hätte sie gerne noch wilder gesehen, doch dafür reichte es nicht. Und so brachten sie die Agenda kurz zum Wackeln, doch Schröders Regierung fiel nicht.
Was blieb, war natürlich erneut Frust, aber auch ein Aufbruch, der die politische Landschaft nachhaltig veränderte. Sozialpolitische Initiativen waren zum Bestandteil einer neu erstarkten Bewegungslandschaft geworden. Akteure wie Attac, Sozialforen und übergreifende Netzwerke, die WASG und schließlich die Partei Die Linke eine Folge dieser Zeit. Der Neoliberalismus verlor seine unangefochtene Hegemonie. Peter Grottian war eines der wichtigsten Gesichter dieser Kampfjahre.
Für mich bleibt er als Professor vor allem wegen seiner Artikulation und Sprache in Erinnerung. Seine Stimme war warm und tief. Im persönlichen Gespräch war er großväterlich sanft, selbst wenn er mit einem stritt. Ging er ans Mikro, hob sich seine Stimme jedoch und er wurde zornig. Die politische Wut war in ihn eingeschrieben. Seine Aussprache war überdeutlich, und sein Duktus immer so verständlich, dass auch eine Krankenschwester oder ein Geflüchteter sehr gut folgen konnten.
Er stand für eine selten gewordene Tradition intellektuellen Aktivismus, er war die personifizierte organische Verbindung von der Theorie mit der Praxis. Als plebejischer Professor war er eine Revolte gegen einen akademischen Habitus, der die universitäre Linke so stark erfasst hat. Darin war er ein letzter Mohikaner einer Geisteshaltung, die das Privileg der Bildung an der Universität als Verpflichtung betrachtet, denjenigen ohne dieses Privileg zu dienen.
Er hatte ein politisches Leben, und das hat er gelebt. Er wird uns fehlen, als die Erscheinung, die er war und als eine seltene politische Inspiration.