08. März 2021
Im sozialistischen Jugoslawien entstand ein experimentelles Wohnungsbauprogramm für die Massen. Die günstige und variable Bauweise war so beliebt, dass die Pläne ihren Weg bis ins vom Kolonialismus befreite Angola fanden.
In Neu-Belgrad waren preiswerte Wohnungen für die Arbeiterklasse oft mit einem luftigen Gefühl von Geräumigkeit und Aussicht verbunden – Qualitäten, die heute häufig als Alleinstellungsmerkmale exklusiver Eigentumswohnungen vermarktet werden.
Der populäre Zugang zum staatssozialistischen Massenwohnungsbau des 20. Jahrhunderts bewegt sich in der Regel irgendwo zwischen Stereotyp, Parodie und Fetisch. In den sozialen Medien zum Beispiel sind generische Plattenbauten in unterschiedlichen Stadien des Verfalls eine große Sache. Hier findet sich eine schier endlose Fülle stilisierter Fotos, die trostlose, in Beton gegossene Sozialwohnungen zeigen und dadurch die üblichen Missverständnisse schüren: Sei es, dass die verantwortlichen sozialistischen Regime völlig daran gescheitert seien, die Arbeiterscharen aus der Armut zu befreien; oder dass die Platte die einzige diesen Regierungen bekannte Antwort auf die Wohnungsfrage gewesen wäre.
Das ist natürlich beides falsch. In der reaktionären Begeisterung für brutalistischen »Ruinen-Porno« bleiben die Besonderheit und die Wirksamkeit der staatssozialistischen Wohnungsproduktion unbeachtet. Solche Karikaturen verdecken die Vielfalt der im sozialistischen Raum entwickelten Fertigbausysteme, die um 1950 in weiten Teilen Europas und Asiens verbreitet waren und auch in Afrika und Lateinamerika angewandt wurden. Die Realität der in dieser Zeit entwickelten Massenwohnungsbaulösungen geht nicht in den düsteren Darstellungen des postsozialistischen Stadtlebens auf, sondern zeigt, dass sich der Bedarf nach günstig gebauten und leicht reproduzierbaren Konstruktionen durchaus mit dem Wunsch nach Flexibilität, Kreativität und individuellem Ausdruck verbinden lässt.
Um den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg zu befördern, wurde im sozialistischen Jugoslawien eine ganz eigene Fertigungstechnologie entwickelt, die die Produktion von außergewöhnlichen und dabei kostengünstigen Massenwohnungen im In- und Ausland ermöglichte. Bekannt als das IMS-Žeželj-System, produzierte diese skelettartige Technologie Wohnblöcke, die sich völlig von der monotonen sowjetischen Plattenbauweise unterschieden. Mit seiner Hilfe konnten die jugoslawischen Architektinnen und Architekten vielfältige Innengrundrisse und abwechslungsreiche Außenfassaden entwerfen.
In Neu-Belgrad – einem ehemaligen Sumpfgebiet an der Donau, das zur größten Baustelle im Nachkriegseuropa wurde – ermöglichten die mit der IMS-Žeželj-Technologie errichteten Wohnungen dank flexibler Grundrisse und sozial diverser Wohnzusammenhänge Menschen mit den verschiedensten Hintergründen eine Erhöhung ihrer Lebensqualität. Damals ein wesentlicher Bestandteil der Bemühungen zur Behebung der Wohnungsnot in Jugoslawien, bleibt die IMS-Žeželj-Technologie bis heute ein beeindruckendes Beispiel für kostengünstigen und würdigen öffentlichen Wohnungsbau – und skizziert damit eine Alternative zu der globalen Wohnungskrise der Gegenwart.
»In Neu-Belgrad waren preiswerte Wohnungen für die Arbeiterklasse oft mit einem luftigen Gefühl von Geräumigkeit und Aussicht verbunden – Qualitäten, die heute häufig als Alleinstellungs-merkmale exklusiver Eigentumswohnungen vermarktet werden.«
Als Neu-Belgrad 1946 als Hauptstadt der damaligen Föderalen Volksrepublik Jugoslawien eingeweiht wurde, existierte es vor allem als Idee in den Plänen von Politikern, Architektinnen und Urbanisten. Angesichts der massiven Zerstörung seiner städtischen und ländlichen Infrastruktur während des Zweiten Weltkriegs verfolgte Jugoslawien eine Agenda der raschen Modernisierung, wobei Neu-Belgrad zum symbolischen Sitz der Ambitionen des Staates wurde. Die Urbanisierungskampagne konzentrierte sich dabei vor allem auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, die nach dem Krieg massenhaft nach Belgrad kamen. Sie waren so zahlreich, dass sie in provisorischen Strukturen im unbebauten Sumpfgebiet unterkommen mussten, auf dem Neu-Belgrad erst noch errichtet werden sollte.
In Reaktion auf diese beispiellose Wohnungskrise verwandelte das IMS-Žeželj-System die karge Landschaft in ein funktionalistisches Raster aus mittleren und hohen Wohnblöcken, das inmitten einer sich erholenden, kriegszerstörten Wirtschaft hochwertigen Massenwohnraum bot.
Branko Žeželj, der Bauingenieur, der das Konstruktionssystem konzipierte, das noch heute seinen Namen trägt, profitierte damals von den hohen staatlichen Subventionen für die Ingenieursforschung und die Bauindustrie. Im Jahr 1957 stellte er seine neue Technologie vor: ein vorgespanntes Skelettsystem aus vorgefertigten Säulen und Platten. Sie unterschied sich deutlich von der bestehenden sowjetischen Vorfertigungstechnologie – der Plattenbauweise –, die auf weitgespannte, vorgefertigte Betonelemente als grundlegende und tragende Baueinheiten setzte.
Das IMS-Žeželj-System besteht aus standardisierten Pfosten- und Sturzelementen, die vertikal und horizontal zu einer inneren Struktur zusammengefügt werden, die das gesamte Gewicht des Gebäudes trägt. Das gibt den Architektinnen und Architekten die Freiheit, mit der Konfiguration von Innen- und Außenwänden zu experimentieren, da diese keine tragende Funktion haben. Zwei- und dreigeschossige Pfeiler und eine quadratische Platte, die alle vertikal und horizontal vorgespannt wurden, bilden, wie die Architekturhistorikerin Jelica Jovanović erklärt, eine modulare Struktur, die horizontal theoretisch bis ins Unendliche fortgeführt werden kann und vertikal den Bau von bis zu 26 Stockwerken unterstützt. Die iterativen Skeletteinheiten des Systems haben keinen Einfluss auf die Grundriss- und Fassadengestaltung und erlauben es, mit offenen Grundrissen, demontierbaren Trennwänden, Balkonen und Enfiladen sowie einer ringförmigen Zirkulation um einen zentralen Küchen- und Badkern zu experimentieren – und so den Wohnraum in den kompakten Wohnungen zu maximieren.
Die genial einfache Mechanik des vorgefertigten Bauskeletts des IMS-Žeželj-Systems ermöglichte den Architektinnen und Architekten große Flexibilität nicht nur bei der Gestaltung individueller Wohnungsgrundrisse, sondern auch bei den Außenfassaden. »Alles in Allem ergeben diese Besonderheiten eine eigenständige, in Belgrad entstandene Wohnungsbaukultur«, erklärt Jovanović. Diese beruhte auf einem emblematischen »Belgrader Plan« und einer eigenen Belgrader Schule für Wohnarchitektur, deren Mitglieder ein Interesse an experimenteller Bautechnik mit der Kultur des Massenwohnungsbaus verbanden. »Das Konzept der Belgrader Wohnung war ein Produkt kollektiver Autorenschaft«, erklärt Vladimir Kulić, Kurator und Historiker der Architektur im sozialistischen Jugoslawien. Im Rahmen offener Designwettbewerbe für die Wohnblöcke von Neu-Belgrad entwickelte sich eine Kultur des Massenwohnungsbaus, in der sich viele lokale Architektinnen und Architekten tummelten, die sich sowohl am Ideenaustausch als auch am Experimentieren mit den Möglichkeiten des selbstverwalteten Wohnens begeisterten.
Die Bewohnerinnen und Bewohner von Neu-Belgrad wurden von akribisch geplanten Wohnvierteln erwartet: Die 8.500-Personen-Siedlung Cerak Vinogradi wurde mit schmalen Fußgängerkorridoren, individueller Beschilderung in der gesamten Siedlung, reichlich Grün und Grundschulen in jedem Quadranten des Quartiers gestaltet. Wohnblöcke mit Ziegelsteinfassaden und steil abfallenden Dächern unterstreichen die große Vielfalt an Lösungen für eine Außengestaltung ohne jeglichen Bezug auf Beton. Wer hier einzog, erhielt eine umgestaltbare Wohnung mit offenen Räumen, die je nach Familiengröße und Anzahl der Bewohnerinnen und Bewohner verändert oder neu angeordnet werden konnten, um die verschiedensten häuslichen Aktivitäten zu ermöglichen. Diese räumliche Flexibilität sollte eine Kultur der Selbstverwaltung befördern.
Milenija Marušić, eine der Gestalterinnen der Wohnanlage, steht nach Kulić beispielhaft für die Originalität im Umgang mit kleinen Wohnungen: »Sie hatte ein sehr klares Gespür für die psychologische Wirkung einer Wohnung«, erklärt er: »Öffnet man eine Tür, muss am anderen Ende ein Fenster sehen, sonst fühlt es sich beengt an.«
Lange Sichtachsen über mehrere Wohnbereiche gewährleisten zusammen mit Fenstern an beiden Seiten einen gleichmäßigen Einfall von natürlichem Licht im gesamten Innenraum; zugleich vermeiden die für Cerak Vinogradi entwickelten Wohnungspläne auf geniale Weise enge Eingänge und schmale Korridore. In Neu-Belgrad waren preiswerte Wohnungen für die Arbeiterklasse oft mit einem luftigen Gefühl von Geräumigkeit und Aussicht verbunden – Qualitäten, die heute häufig als Alleinstellungsmerkmale exklusiver Eigentumswohnungen vermarktet werden.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die sozialistischen Wohnungen in Neu-Belgrad während des Höhepunkts der Bautätigkeit zwischen dem Ende der 1950er und der Mitte der 1980er Jahre Eigenschaften aufwiesen, die heute mit den Luxusimmobilien des globalen Kapitals assoziiert werden. Die jugoslawischen Wohnblöcke wurden oft von Arbeitergenossenschaften finanziert, um Arbeiterwohnungen in großem Maßstab zu bauen. Dabei kultivierten die Neu-Belgrader Blöcke bekanntermaßen eine sozioökonomische Vielfalt unter den Bewohnerinnen und Bewohnern – eine Universitätsprofessorin konnte zum Beispiel neben einem Fabrikarbeiter wohnen –, sodass sich die formale Vielfalt der Massenwohnblocks in einer Heterogenität der Hausgemeinschaft widerspiegelte. Die IMS-Žeželj-Technologie ermöglichte so nicht nur die Anpassung der Wohnungen an unterschiedlichste Bedürfnisse, sondern minderte zugleich auch Klassenunterschiede.
Die ausgeklügelte Flexibilität des jugoslawischen Wohnungsbaus blieb ein bestimmendes Merkmal, auch nachdem das IMS-Žeželj-System zum Exportschlager wurde. Dank der variablen Montagemöglichkeiten des Systems – seine Komponenten können sowohl industriell in einer Fabrik als auch manuell vor Ort hergestellt werden – und des relativ einfachen Installationsprozesses war es für eine Vielzahl baulicher Bedingungen einsetzbar, was es besonders für Entwicklungsländer in der postkolonialen Welt attraktiv machte. Insgesamt wurden mit dem System über 150.000 Wohnungen in Kuba, Angola, auf den Philippinen, aber auch in Ungarn, Italien und anderswo im sozialistischen Einflussbereich gebaut.
Neu-Belgrad war noch eine große Baustelle, als es 1961 die Eröffnungskonferenz der Bewegung der Blockfreien Staaten ausrichtete. Die von Jugoslawien mitgegründete Organisation richtete sich an Staaten, die sich im Kalten Krieg weder dem amerikanischen noch dem sowjetischen Block anschließen wollten. Dabei ging es darum, für eine neue ökonomische Weltordnung zu kämpfen, in der die Gewinne aus dem Rohstoffabbau gerechter verteilt würden. 25 Länder, darunter viele sich dekolonisierende Nationen, nahmen an der Konferenz teil; dazu kamen drei Beobachterländer und verschiedene sozialistische Organisationen, Gewerkschaften und nationale Befreiungsbewegungen.
»Der Zugang zu hochwertigem Wohnraum für die angolanische Arbeiterklasse sollte im Kampf für eine neue Wirtschaftsordnung eine zentrale Rolle einnehmen.«
Sechs Monate zuvor hatte sich das angolanische Volk gegen die portugiesische Kolonialherrschaft erhoben. Der angolanische Unabhängigkeitskrieg sollte bis 1974 andauern und schließlich auch in Portugal eine Revolution auslösen. Auf der Konferenz im Jahr 1961 wurde Angola von zwei revolutionären Gruppen repräsentiert: der Bewegung zur Befreiung des Volkes von Angola (mpla), einer marxistischen Guerillaorganisation, die die Unabhängigkeit von Portugal anstrebte, sowie einer rivalisierenden sezessionistischen Organisation. In seiner Rede auf der Eröffnungskonferenz in Neu-Belgrad solidarisierte sich der jugoslawische Staatspräsident Josip Broz Tito mit der mpla und prangerte die gewaltsame Unterdrückung der Befreiungsbewegungen in Angola durch Portugal an – eine Aussage, die Jugoslawien mit 15 Jahren materieller, militärischer und ideologischer Unterstützung im dekolonialen Kampf unterstrich.
Der Zugang zu hochwertigem Wohnraum für die angolanische Arbeiterklasse sollte im Kampf für eine neue Wirtschaftsordnung eine zentrale Rolle einnehmen. Mitte 1976 wandte sich die Regierung der mittlerweile unabhängig gewordenen Republik Angola an das Jugoslawische Komitee für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern, um den Wiederaufbau nach dem Krieg zu besprechen. Zweifellos war die umfassende jugoslawische Erfahrung beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg für Angola ebenso von Vorteil wie die gemeinsame Mitgliedschaft in der Bewegung der Blockfreien Staaten. Im folgenden Jahr wurden Bauberaterinnen und Infrastrukturexperten aus Belgrad nach Luanda geschickt, wo sie eine bestehende IMS-Žeželj-Fabrik vorfanden, die Angola zuvor von der kubanischen Regierung gespendet worden war.
Da die benötigte Bautechnologie bereits in Angola vorhanden war, machte das angolanische Ministerium für Bau- und Wohnungswesen das IMS-Institut zu seinem wichtigsten Kooperationspartner. So erhielt das Zentrum für Wohnungsbau von der mpla den Auftrag, erstens einen Masterplan für die Wohnsiedlung Luanda Lixeira zu erstellen und zweitens die dazugehörigen Wohngebäude zu entwerfen.
Die Entwurfsarbeiten für den Masterplan Luanda Lixeira begannen 1977 auf der Grundlage einer Projektvorgabe der angolanischen Regierung: eine Siedlung für 25.000 Menschen, in der 4.170 Familien in Vier-, Sechs- und Acht-Personen-Haushalten leben sollten. Die Ausgabe des Newsletters des Zentrums für Wohnungsbau vom Mai 1978, die dem Lixeira-Projekt gewidmet ist, zeigt den Masterplan, der schräg zum bestehenden Boulevard an der nördlichen Grenze des 100 Hektar großen Geländes der Siedlung anschließt. Auf die unregelmäßige Topografie des Geländes und die ungleichmäßige Tragfähigkeit des Bodens reagiert der Plan mit einem gedrehten funktionalistischen Wohnblock-Raster.
Ein Entwurf zeigt zwei gestaffelte Wohnblöcke, die das unregelmäßige Gefälle des Geländes nutzen, um für jede Einheit in beiden Gebäuden Außenterrassen anzulegen – undenkbar in der sowjetischen Plattenbauarchitektur. Die dadurch entstandenen, eingerückten Wohnungsgrundrisse ermöglichen wiederum eine Querlüftung mit zwei Tageslichtöffnungen. Die architektonischen Mittel zur Aufhebung der Klassenunterschiede sollten in Neu-Belgrad und Lixeira die gleichen sein, auch wenn der angolanische Bürgerkrieg die Herausbildung selbstverwalteter Strukturen verhinderte.
Von den erwarteten 25.000 Bewohnerinnen und Bewohnern in Luanda Lixeira zogen schließlich nur wenige tatsächlich in die Wohnungen ein. Zwei der Gebäude, die für den Masterplan entworfen worden waren, wurden 1983 an einem anderen Ort in Luanda errichtet. Der sich verschärfende angolanische Bürgerkrieg machte jeden weiteren Ausbau unmöglich.
Es ist nicht auszuschließen, dass in Angola seitdem weitere Gebäude mit Strukturelementen aus der IMS-Žeželj-Fabrik errichtet wurden, auch wenn die Fabrik selbst nicht mehr existiert. Die beiden ursprünglichen IMS-Žeželj-Wohngebäude in Luanda sind noch intakt und bewohnt, aber die sozialpolitischen Ambitionen des größeren Projekts – der Bau von qualitativ hochwertigem, erschwinglichem Massenwohnraum für Angolas Arbeiterklasse – sind unerfüllt geblieben. Stattdessen drängen sich im Stadtzentrum und an der Uferpromenade luxuriöse Hochhauswohnungen, während sich um die Innenstadt herum riesige Elendsviertel winden. Luanda, eine Stadt des Öl-Booms, die 2017 zur teuersten Stadt der Welt gekürt wurde, steht exemplarisch für die grotesken sozioökonomischen Ungleichheiten des Petro-Kapitalismus.
Der ursprüngliche IMS-Žeželj-Standort, der heute den Slum Lixeira beherbergt, zeigt beispielhaft, dass hier nicht so sehr der Sozialismus und sein Programm des Massenwohnungsbaus gescheitert ist, als dass vielmehr die kapitalistische Weltordnung seine Verwirklichung verhindert hat. Die vermeintlichen Unzulänglichkeiten des sozialistischen Wohnens verblassen im Vergleich zu den Missständen auf dem Wohnungsmarkt, die von der postsozialistischen internationalen Wirtschaftsordnung hervorgebracht werden.