10. Juli 2023
Der Oppositionsführer Donald Tusk hat gezeigt, dass er Hunderttausende gegen die Justizreform der Regierung mobilisieren kann. Doch seine liberale Bürgerplattform bietet den Menschen nichts an, die wegen ihrer Sozialpolitik an der PiS festhalten.
Der ehemalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk gibt sich zuversichtlich. Doch viele Menschen tragen ihm seine Regierungszeit noch nach.
IMAGO / NurPhotoAm 4. Juni gingen Hunderttausende von Menschen in Warschau auf die Straße, um gegen den Niedergang der polnischen Demokratie zu protestieren. Sie prangerten die Bilanz der nationalkonservativen Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość – Recht und Gerechtigkeit) an, die seit 2015 an der Macht ist. Es war der größte Einzelprotest in Polen seit dem Frauenstreik gegen das De-facto-Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen im Herbst 2020. Im November stehen Parlamentswahlen an. Die Massenkundgebung wirkt auf den ersten Blick wie ein politischer Durchbruch für die Opposition. Doch der Schein trügt.
Die Demonstration in Warschau folgte dem Aufruf von Donald Tusk, Ministerpräsident von 2007 bis 2014, langjähriger EU-Funktionär und heute Vorsitzender der größten liberalen Oppositionspartei, der Bürgerplattform PO (Platforma Obywatelska). Obwohl die Kundgebung offiziell von anderen Oppositionsparteien unterstützt wurde – von der Mitte-Rechts-Koalition Dritter Weg bis hin zu den Sozialdemokraten der Neuen Linken – wurde Tusk weithin als ihre Galionsfigur wahrgenommen.
Die ideologische Ausrichtung der Demonstration entsprach ebenfalls dieser Wahrnehmung: Die Redebeiträge von Politikerinnen und Politikern konzentrierten sich ausschließlich darauf, dass die demokratischen Normen bedroht seien und dass die Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederhergestellt werden müsse. Damit zogen sie Parallelen zwischen dem rechtsgerichteten, katholischen Autoritarismus der PiS und dem »real existierenden Sozialismus« in Polen vor 1989.
Mit Hinblick auf die heutige soziale und wirtschaftliche Struktur des Landes sind dies, gelinde gesagt, gewagte Vergleiche. Zutreffend ist, dass die PiS seit Beginn ihrer Regierungszeit die Rechtsstaatlichkeit in Polen untergraben hat. Bereits 2015 manipulierte sie das Verfahren zur Wahl des Verfassungsgerichts, um sich eine Mehrheit von ihr wohlgesonnenen Richtern zu sichern. Im Jahr 2016 fusionierte sie auf umstrittene Weise die Ämter des Justizministers und des Generalstaatsanwalts, wodurch die Staatsanwaltschaft – Regierungsgegnern zufolge – zu einer politisierten Institution wurde.
Als nächstes führte die Regierung zwei neue Kammern am Obersten Gerichtshof ein. Eine von ihnen, die Disziplinarkammer, wurde mit ehemaligen Staatsanwälten besetzt, die als loyal gegenüber dem Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro gelten. Dahinter steht die mehr oder weniger klare Absicht, die Richterinnen und Richter zu überwachen und möglicherweise diejenigen zu suspendieren, deren Rechtsprechung nicht den Wünschen der Regierung entspricht.
Ein weiteres Beispiel für den Autoritarismus der PiS ist die Unterdrückung der Frauenproteste in den Jahren 2020/21, als friedliche Versammlungen von der Polizei umstellt und am Weiterziehen gehindert wurden. Teilnehmerinnen wurden unter dem Vorwand, sie würden gegen Corona-Auflagen verstoßen, geschlagen oder auf eine weit entfernte Polizeistation gebracht.
Die PiS-Führung äußert ganz offen ihre Absicht, eine »gesunde Gesellschaft auf der Grundlage traditioneller Werte« aufzubauen. Ihr Fokus auf katholische Werte, eine familiäre Sozialstruktur und einen starken Zentralismus hat nichts mit der Ideologie oder auch nur der Rhetorik des Sozialismus gemein, die Produktionsmittel in gesellschaftlichem Besitz und eine Politik für die breite Masse einfordert.
Bei aller Feindseligkeit der PiS gegenüber Oppositionellen und Minderheiten hat sie den Sozialstaat in bescheidenem Maße ausgeweitet, was im neoliberalen Polen vor 2015 als unmöglich galt. Während es also absolut zutreffend ist, dass die PiS die Demokratie untergräbt, blendet ihre Kritik von neoliberaler Seite bequemerweise aus, dass eine Rückkehr in die Zeit davor für Millionen von Wählerinnen und Wählern nicht besonders vielversprechend klingt.
Selbstverständlich waren am 4. Juni auch jüngere Linke in der Menge, die »ein soziales, kein autoritäres Polen« forderten, ebenso wie Feministinnen. Doch ihre Stimmen hatten wenig Einfluss auf die Botschaft der Veranstaltung. Die liberale Opposition forderte lediglich, dass die PiS von der Macht entfernt werden solle, ohne zu versprechen, dass ihre eigene künftige Regierung etwas radikal anderes bringen würde als den zusammengekürzten »Billigstaat« aus der Ära der Transformation und Tusks Regierungszeit.
In seiner Rede vor der Menge im Warschauer Stadtzentrum erklärte Tusk, hier sei das »wahre Polen« versammelt. Eine optimistische Einschätzung – aber weit entfernt von der Realität. Während die Liberalen und ihre Verbündeten ihre Anhängerschaft mobilisierten, tat die PiS es ihnen gleich. Die rechten Medien schrieben wochenlang über den »Marsch der Gauner« und suggerierten, dass Tusk, sollte er an die Macht zurückzukehren, die Bevölkerung Polens in die Armut treiben würde (der sie Dank der PiS entflohen sei) und Politik im Interesse Deutschlands statt in dem seines eigenen Landes betreiben würde.
Der Diskurs der Rechten stößt keineswegs auf taube Ohren. Die Anhängerinnen und Anhänger der Regierung versammeln sich zwar nicht auf der Straße, aber die Umfragen lassen keinen Zweifel zu: Der harte Kern der Wählerschaft der PiS schrumpft nicht. In der ersten Erhebung nach der Kundgebung lag Tusks Bürgerplattform zwar vorn, allerdings mit einem minimalen Vorsprung vor der Regierungspartei (32 Prozent zu 31 Prozent). Gleichzeitig haben die kleineren Oppositionsparteien verloren. Es waren ihre Wählerinnen, nicht desillusionierte PiS-Anhänger, die zur Bürgerplattform überliefen. Es gibt praktisch keine Wählerwanderung vom konservativ-nationalistischen Lager zur liberalen Seite.
»Unter Tusks Regierung wurden Arbeitsverträge massiv durch ›Schrottverträge‹ ersetzt, die den Menschen grundlegende soziale Rechte vorenthielten, und Löhne von 5 bis 6 Zloty pro Stunde waren keine Seltenheit.«
Die Bürgerplattform scheint ihre Stammwählerschaft als Reaktion auf die antidemokratischen Maßnahmen der PiS aktiviert zu haben. Darunter fällt insbesondere der Angriff auf die unabhängige Justiz und das Projekt, eine Kommission einzusetzen, die Russlands Einfluss in Polen untersuchen soll. Diese wäre befugt, Politikerinnen und Politiker für zehn Jahre von öffentlichen Ämtern auszuschließen, wenn sie zu dem Schluss kommt, dass sie in der Vergangenheit unter dem Einfluss Moskaus gehandelt hätten – was auch immer das bedeutet.
Doch die Millionen von Wählerinnen und Wählern der PiS, insbesondere Menschen aus der Arbeiterklasse und Unternehmer, die außerhalb der großen Städten leben, assoziieren nichts Gutes mit Tusk und seiner Partei. Viele erinnern sich, dass unter seiner Regierung Arbeitsverträge massiv durch »Schrottverträge« ersetzt wurden, die den Menschen grundlegende soziale Rechte vorenthielten, und dass Löhne von 5 bis 6 Zloty pro Stunde (20 bis 30 Eurocent) keine Seltenheit waren. Die PiS, die den Mindestlohn mehrmals erhöhte, Kinder- und Alterszulagen einführte und Personen unter 26 von der Steuer befreite, bleibt für diese Menschen ein sozialer Garant. Angriffe auf das Verfassungsgericht oder die unabhängige Justiz verblassen angesichts der unbestrittenen sozialen und ökonomischen Verbesserungen, vor allem, da sich die Regierungspartei ständig an »einfache Polen« und »hart arbeitende Familien« wendet und verspricht, für ihr Wohlergehen zu sorgen.
Auch verfügt die PiS über einen ausgereiften und aggressiven Propagandaapparat: Der nationale Fernsehsender TVP wird von ihr wohlgesonnenen Akteuren kontrolliert und verbreitet systematisch den Standpunkt der Regierung, beschuldigt ihre Kritikerinnen und Kritiker, für Putin und/oder Deutschland zu arbeiten, und hetzt gegen LGBTQ-Personen oder – wie anlässlich der Proteste gegen das Abtreibungsverbot – gegen Frauen.
Es reicht, die Äußerungen von PiS-Anhängern in den sozialen Medien lesen, um zu sehen, dass ein solches Narrativ auch erfolgreich angewandt wird, um die Kundgebung am 4. Juni zu diskreditieren: In regierungsnahen Medien wird sie entweder als Aufmarsch von Hooligans oder als Veranstaltung, die dem »deutschen Einfluss« diente, dargestellt.
Mit der Erwähnung Deutschlands in diesem Zusammenhang greift die PiS eine seit Jahrzehnten in der polnischen Gesellschaft vorhandene und erst in jüngster Zeit abklingende Angst auf, dass Deutschland seine Gebietsverluste nach dem Zweiten Weltkrieg nie akzeptiert habe und Ostpreußen, Niederschlesien oder Vorpommern gerne zurückerobern würde. Solches Misstrauen gegenüber Deutschland oder das Gefühl, dass gute, nachbarschaftliche Beziehungen zwischen beiden Ländern niemals möglich sein werden, sind besonders in der PiS-Basis weit verbreitet, während neoliberale Kreise die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland stärken wollen und die Bundesrepublik sogar als Vorbild ansehen.
Die PiS beabsichtigt nicht, sich für ihre Verstöße gegen demokratische Prinzipien zu rechtfertigen, denn ihre Wählerschaft interessiert das einfach nicht. Die Opposition hingegen ist in den Augen dieser Menschen unglaubwürdig, wenn sie argumentiert, dass sie im Zuge des Kampfes für die Demokratie und gegen die PiS deren sozialen Errungenschaften nicht zunichte machen würde. Denn unter den lautstarken Unterstützerinnen und Beratern von Tusk befinden sich Ökonomen, die Polens Übergang zum Kapitalismus mitgestaltet haben, allen voran Leszek Balcerowicz, der berüchtigte Architekt der Schocktherapie.
So hat die Kundgebung in Warschau vor allem bewiesen, dass sich die polnische Politik immer noch entlang der Bruchlinien zwischen nationalen, teilweise euroskeptischen, stark katholischen Konservativen und pro-europäischen Wirtschaftsliberalen gliedert (wobei es sich um einen Liberalismus handelt, der sich zum Beipsiel zu Frauenrechten weniger stark bekennt).
Wenn es in Polen überhaupt eine potenzielle »dritte Kraft« gibt, so ist es die extrem wirtschatftsliberale, ultrakonservative Konföderation der Freiheit und Unabhängigkeit (Konfederacja Wolność i Niepodległość). Die Partei hat den Marsch vom 4. Juni nicht unterstützt und klar gemacht, dass sie nach den Wahlen als Koalitionspartnerin sowohl der PiS als auch der PO bereitstünde.
Jüngste Umfragen bescheinigen der Konföderation bis zu 15 Prozent, die sie dank primitiver marktliberaler Slogans erlangt hat, die unter anderem suggerieren, dass die völlige Abschaffung von Steuern den allgemeinen Wohlstand steigern würde. Dieser grenzenlose Enthusiasmus für die Freiheit des Unternehmertums ist das Schlüsselelement, das die Konföderation von der PiS unterscheidet, die einige ausgewählte Sozialprogramme bietet und staatlichen Interventionismus gutheißt, »wenn er historisch notwendig ist«.
»Die viel größere Herausforderung für die PiS sind die Inflation und die sich verschlechternden Lebensbedingungen der Bevölkerung.«
Gesellschaftspolitisch vertritt die Konföderation ein traditionelles Familienbild (und fordert ganz offen die Unterordnung von Ehefrauen gegenüber ihren Ehemännern), befürwortet Nationalstolz anstelle von »Kosmopolitismus« und greift Hetztiraden der westlichen Rechten gegen »kulturellen Marxismus«, »Multikulturalismus« und »Verdorbenheit« durch LGBTQ-Personen auf. Die Wählerbasis der Konföderation bilden vor allem junge Männer in großen und mittelgroßen Städten mit unterschiedlichem Bildungsniveau, die oft ein kleines Unternehmen führen. Die Konföderation ist außerhalb der städtischen Kreise und unter älteren Menschen kaum verankert und bei Frauen tendenziell sehr unbeliebt.
Der Vormarsch der Konföderation bedeutet keinen beispiellosen Aufstieg der extremen Rechten – eine Charakterisierung, die auch auf die Regierungspartei selbst angewandt werden könnte. Die PiS bedient sich der widerlichsten islamfeindlichen Argumente und hetzt gegen LGBTQ-Personen als Gefahr für polnische Familien und die Gesellschaft, um ihre Basis aufzuwiegeln. Während Rhetorik und Politik der PiS als Teil eines europaweiten Trends aufgefasst werden können (rechte Parteien haben fast überall von der Flüchtlingskrise und der Pandemie profitiert), steht die PiS in dieser Hinsicht als Pionierin da. In der Tat loben rechte Parteien in Spanien bis Rumänien die PiS-Regierung als Modell für ihr eigenes Land.
Es war die PiS, die einen Zaun an der Grenze zu Belarus errichtet hat und verzweifelte Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak, Syrien und verschiedenen afrikanischen Ländern zurückdrängen lässt. Wie Umfragen zeigen, wird diese Politik von mehr als der Hälfte der Bevölkerung unterstützt. Die PiS hat die Menschen erfolgreich davon überzeugt, dass Geflüchtete, die versuchen, über die belarussische Grenze ins Land zu gelangen, Werkzeuge der russischen Agression gegen Polen seien und daher als Bedrohung für die öffentliche Sicherheit behandelt werden sollten.
Auch dass Polen eine sehr viel größere Anzahl von Geflüchteten aus der Ukraine mit offenen Armen aufnahm, hat in dieser Hinsicht zu keinem Umdenken geführt. Das liegt auch daran, dass die Zurückdrängung an der polnisch-belarussischen Grenze im Wesentlichen mit Billigung Brüssels und im Einklang mit der Politik der Festung Europa erfolgt, die die Außengrenzen für die Migration schließt. Die EU kritisiert Polen zwar zu Recht für seine politische Einflussnahme auf das Justizsystem, hat aber nie vergleichbar scharfe Kritik an den Verstößen gegen das Asylrecht geäußert, die – gebilligt durch die Urteile polnischer Gerichte – an dieser Grenze stattfinden.
Es ist zu erwarten, dass die Regierungspartei im weiteren Verlauf des langen polnischen Wahlkampfs verstärkt auf fremdenfeindliche Slogans zurückgreifen werden. Das Problem für den polnischen Autoritarismus ist nicht die Mobilisierung der liberalen Wählerschaft, die, wie die Umfragen zeigen, nicht in der Lage ist, eine bestimmte Schwelle der Unterstützung zu überschreiten. Die viel größere Herausforderung sind die Inflation und die sich verschlechternden Lebensbedingungen der Bevölkerung. Diese Probleme könnten dazu führen, dass die Menschen, die der PiS bisher für die Sozialleistungen dankbar waren, sich enttäuscht von ihr abwenden.
Die Regierung wird daher alles tun, um zu vermeiden, dass die Probleme des täglichen Lebens, die Lebenshaltungskosten, die Wohnungsfrage (der Mangel an bezahlbarem Wohnraum ist das vielleicht drängendste Problem junger Erwachsener) oder die öffentlichen Dienstleistungen Wahlkampfthema werden. Die Nachlässigkeit der Regierung auf diesen Themenfeldern wird von der sozialdemokratischen Linken kritisiert (die Liberalen interessieren sich, wie zu erwarten, nicht wirklich für soziale Fragen), aber ihre Stimme wird kaum gehört. Da es die polnische Linke jahrelang versäumt hat, eigene Medien aufzubauen, erreichen selbst die besten Argumente der Sozialdemokratie nur die bereits Überzeugten.
»Die Linke – selbst die ›kompromissbereite‹ Sozialdemokratie – tut sich schwer, sich mit ihren Forderungen Gehör zu verschaffen.«
Unterdessen will die PiS-Regierung den unerwarteten Bedeutungsgewinn Polens in der NATO und in der EU nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine für ihre Zwecke nutzen. Polen hat die meisten Geflüchteten aus der Ukraine aufgenommen und ist zu einem wichtigen strategischen Drehkreuz geworden, über das westliche Militärhilfe in die Ukraine gelangt. Zusammen mit den baltischen Staaten ist Polen auch in der EU ein Hauptbefürworter einer fortgesetzten bedingungslosen Unterstützung der Ukraine und handelt in dieser Frage in vollem Einklang mit der Position der USA. Die Überzeugung, dass die Ukraine bis zum Sieg unterstützt werden sollte, ist in der polnischen Öffentlichkeit fast universeller Konsens.
Der harte Kurs der EU und die aufeinanderfolgenden Sanktionspakete gegen Russland verleiteten die polnische Regierung zu der Annahme, dass Brüssel nicht nur bei den Aktionen an der Grenze zu Belarus, sondern auch bei der Reform des Justizsystems und den Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ein Auge zudrücken würde.
Dies erwies sich jedoch als illusorisch – am 5. Juni stellte der EU-Gerichtshof fest, dass Polen seinen Verpflichtungen aus den europäischen Verträgen nicht nachgekommen sei. In dem Urteil heißt es, dass die auf Anregung der Regierung eingerichtete Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs Polens »die Anforderungen an Unabhängigkeit und Unparteilichkeit [der Justiz] nicht erfüllt« und dass die nach Dezember 2019 vorgenommenen Änderungen im polnischen Justizwesen gegen EU-Recht verstoßen. Dies bedeutet, dass gegen Polen weitere finanzielle Sanktionen verhängt werden.
Während also der Krieg in der Ukraine der Rolle Polens – oder besser gesagt der gesamten sogenannten Ostflanke – in den NATO-Strukturen einen gewissen Auftrieb gegeben hat, ist für die PiS im Konflikt mit Brüssel über die Rechtsstaatlichkeit kein Ende in Sicht. Wahrscheinlich kommt der Partei dies sogar gelegen, um ihre Wählerinnen und Wähler davon zu überzeugen, dass die »deutsch kontrollierte EU« die polnische Regierung unterdrücke.
Der diesjährige polnische Wahlkampf wird daher ähnlich verlaufen wie vor vier Jahren – zwischen der konservativen, in begrenztem Umfang sozialen, antidemokratischen, minderheitenfeindlichen Rechtspartei und einer anderen neoliberalen Rechtspartei, die nur teilweise verstanden hat, warum sie überhaupt die Macht verlor und warum Sozialprogramme notwendig sind. Die extreme Rechte, die das Dogma der freien Marktwirtschaft auf die Spitze treibt und sich, wie die PiS, LGBTQ-feindlicher Ressentiments bedient, entwickelt sich derweil zu einem dritten Pol.
Die Linke – selbst die »kompromissbereite« Sozialdemokratie – tut sich schwer, sich mit ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Hinzu kommt, dass selbst gemäßigte Vorschläge, wie zum Beispiel bezahlbaren Wohnraum zu schaffen oder die Befugnisse der Gewerkschaften auszuweiten, in der antikommunistischen Atmosphäre der polnischen öffentlichen Debatte sofort als »extrem« oder »schädlich für die Wirtschaft« bezeichnet werden.
Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Lösung für die grundlegenden gesellschaftlichen Probleme Polens ein linkes Programm wäre – nur werden Millionen von Wählerinnen und Wählern nicht einmal von seiner Existenz erfahren. Stattdessen werden sie abermals die Partei wählen, die sie jeweils für das kleinere Übel halten.
Małgorzata Kulbaczewska-Figat ist eine Journalistin mit Schwerpunkt Politik und soziale Bewegungen in Mittel- und Osteuropa. Sie ist Mitbegründerin von Cross-Border Talks.<br>