21. November 2022
Rechtsextreme in Brasilien und Israel verstehen sich als »Grundbesitzer« ihrer Länder. Ihre Politik folgt derselben Erzählung: Sie begreifen das Land als ihr rechtmäßiges Eigentum, das sie mit Gewalt gegen »Eindringlinge« verteidigen müssen.
Abschnitt der Sperranlage zwischen Israel und dem Westjordanland, 23. Dezember 2019.
IMAGO / UPI PhotoInnerhalb von nur 48 Stunden hat die Welt die Wahlniederlage eines rechten Präsidenten und die triumphale Rückkehr eines anderen gesehen. Jair Bolsonaro hat zwar nicht zugegeben, dass er die brasilianische Präsidentschaftswahl vom 30. Oktober verloren hat, doch es scheint, als bliebe ihm nichts anderes übrig, als seinen Machtanspruch aufzugeben. In Israel hat Benjamin Netanjahu die Parlamentswahlen am 1. November gewonnen und steuert nun auf die rechteste Koalition zu, die das Land je gesehen hat.
Zur Klarstellung: Die Mehrheit der Israelis hat nicht für Netanjahu gestimmt (sein Block erhielt 48,4 Prozent). Dennoch wird er über eine Mehrheit im Parlament verfügen (64 von 120 Sitzen) – und zwar dank eines Gesetzes, das seine Partei 2014 verabschiedet hat. Dieses hob die Hürde für den Einzug einer Partei in die Knesset auf vier Sitze (3,25 Prozent der Wählerstimmen) an und benachteiligte damit insbesondere die palästinensische Minderheit, deren parlamentarische Vertretung traditionell auf mehrere kleine Parteien verteilt ist. Da auch zwei linke Parteien (Meretz und Balad) an dieser Hürde gescheitert sind und eine vermeintliche Anti-Netanjahu-Partei (Habayit Hayehudi) einen offensichtlichen Versuch unternahm, linke Stimmen zu verschwenden, werden mehr als 7 Prozent der Menschen, die gegen Netanjahu gestimmt haben, im kommenden Parlament nicht vertreten sein.
Der große Gewinner der Wahlen in Israel ist jedoch nicht Netanjahu, sondern sein neuer Verbündeter Itamar Ben-Gvir. Er war einst Teil der rechtsextremen Kampagne, die 1995 zur Ermordung des damaligen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin führte, und bewegt sich seit Jahrzehnten am äußersten Rand der israelischen Rechten. Netanjahu, gegen den mehrere Korruptionsprozesse laufen, förderte Ben-Gvir in der Hoffnung, dass er junge Israelis mobilisieren würde, um den Sieg einer rechten Koalition zu sichern, die die Macht des Obersten Gerichtshofs von Israel einschränken oder die Gesetze ändern könnte, die ihn vor Gericht gebracht haben.
Dadurch legitimierte Netanjahu Ben-Gvirs Partei (Otzma Jehudit, das heißt »Jüdische Stärke«) und seine Ideologie. Inzwischen sind Ben-Gvirs Tiraden zu einem alltäglichen Spektakel in den israelischen Fernsehnachrichten geworden – sogar zu einer Form von Unterhaltung. Mit vierzehn Sitzen im Parlament hoffen Ben-Gvir und seine Gefolgschaft nun, das Ministerium für innere Sicherheit zu besetzen. Ob Netanjahu mit seinem neuen fanatischen Verbündeten verhandeln können wird, bleibt abzuwarten.
Die rechten Anführer in Israel und in Brasilien, samt des religiösen Fanatismus, der ihre Bewegungen antreibt, weisen einige Parallelen auf. Rechtspopulisten in Europa und den USA stellen ihre politischen Gegenüber rhetorisch als die Anti-Nation dar. Ihre brasilianischen und israelischen Entsprechungen gehen weiter und enteignen systematisch einheimische Bevölkerungsgruppen, die ihrer Meinung nach kein Recht haben, dort zu sein. Mit anderen Worten: Die Rhetorik von Ben-Gvir und die Nazi-Grüße von Bolsonaro-Anhängern sind ideologische Eingeständnisse von Bewegungen, die eine Politik der ethnischen Säuberung verfolgen.
Um zu begreifen, wer Ben-Gvir ist und was er will, muss man zunächst verstehen, dass selbst seine extremsten Ideen überhaupt nichts Neues sind. Seit das Mandatsgebiet Palästina im November 1947 in zwei geteilt wurde, ist Israel – und die zionistische Bewegung als sein ideologischer Kern – nicht in der Lage, den gordischen Knoten zwischen einem »demokratischen« und einem »jüdischen« Staat zu lösen. Seit seiner Gründung ist Israel in der Tat ein »jüdischer Staat«: Seine Amtssprache ist Hebräisch, er richtet sich nach dem jüdischen Kalender, seine Gesetze sind von der rabbinischen Gesetzgebung inspiriert und sein Bildungssystem unterrichtet selbst die säkularsten israelischen Schulkinder in den Lehren der Hebräischen Bibel.
Israel hat das Konzept des Nationalstaats zwar nicht erfunden. Im israelischen Fall ist jedoch besonders, wie Einwanderungs- und Siedlungspolitik genutzt werden, um eine demografische Mehrheit zu erzeugen. Jüdinnen und Juden haben ein Recht auf »Rückkehr« und erhalten sofort die israelische Staatsbürgerschaft. Für nichtjüdische Menschen hingegen ist eine Einbürgerung in Israel unmöglich, es sei denn, sie heiraten eine Israelin oder einen Israeli – aber auch nur, sofern diese jüdisch sind. Ein israelischer Palästinenser kann hingegen nicht erwarten, dass seine nicht-israelische palästinensische Frau eingebürgert wird. Israels Gesetzgebung – und insbesondere das berüchtigte »Nationalstaatsgesetz« von 2018 – hat diesen Punkt deutlich gemacht. Dennoch gilt Israel innerhalb seiner souveränen Grenzen im Westen als die »einzige Demokratie im Nahen Osten« und als ein Land, das die Rechte der Einzelnen verteidigt und sich an die höchsten liberalen Werte hält.
Ben-Gvir droht, diese Fassade einzureißen. Für ihn und die messianische Siedlerbewegung, die ihn unterstützt, ist Israel nicht einfach ein jüdischer Staat (Medina Jehudit), sondern das »Land der Juden« (Medinat Ha’jehudim). Folglich ist alles Land innerhalb seiner Grenzen per Definition Eigentum der Jüdinnen und Juden. Auch sind sie der Meinung, dass der Staatsapparat den Interessen derjenigen dienen sollte, die nach Ansicht der rabbinischen Behörden jüdischer Abstammung sind. Es überrascht nicht, dass Ben-Gvir und seine Gefolgschaft zu den Hauptakteuren von Lehava gehören – einer Organisation, die Partnerschaften zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Menschen unterbinden will, vor allem aber dafür bekannt ist, dass ihre Mitglieder harmlose palästinensische Männer in den Straßen von Jerusalem verprügeln. Ihrer Meinung nach soll aus Israel ein rein jüdischer Staat werden, dessen einziger Zweck darin besteht, die Zahl der Jüdinnen und Juden auf den Stand vor dem Holocaust wiederherzustellen und auf diesem Wege die Ankunft des Messias zu beschleunigen.
Ben-Gvirs Wahlkampfslogan »Wer sind hier die Grundbesitzer?« (Mi Po Ba'aley Ha'bait) ist eindeutig. Diese rhetorische Frage vermittelt die einfache Botschaft: Die Grundbesitzer sind zurückgekehrt, um die Eindringlinge von ihrem Eigentum zu vertreiben. Wer diese Eindringlinge sein sollen, ist kein Geheimnis. Wenn es nach Ben-Gvir geht, sollen die 6 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser, die zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer leben, sofort ausgewiesen werden, gefolgt von den sie unterstützenden linken jüdischen Israelis, afrikanischen Geflüchteten und womöglich sogar Mitgliedern der LGBTQ-Community.
Diese Ideen kursieren in der israelischen extremen Rechten schon seit Jahrzehnten. Darüber hinaus macht Ben-Gvir nun weitere faschistoide Andeutungen. Geprägt von der Ideologie des rassistischen Theoretikers Rabbi Meir Kahane, lehnt er nicht nur die universelle Ethik des Liberalismus und der Demokratie ab, sondern erhebt obendrein politisch motivierte Gewalt zu einem Wert an sich. Tatsächlich wurde Ben-Gvir bereits für etliche Gewalttaten gegen Palästinenser verurteilt. Frappierend ist außerdem, dass er am politischen Status quo im Westjordanland, auch bekannt als die »israelisch besetzten Gebiete«, nicht interessiert ist. Stattdessen strebt er eine endgültige gewaltsame Konfrontation an, um Israels innere und äußere Feinde ein für alle Mal loszuwerden. Gleichzeitig will er Israel entsprechend der strikten spirituellen Werte des Judentums umgestalten – oder zumindest nach seiner Interpretation dieser Werte. Seine Ideologie ist also gleichermaßen messianisch und faschistoid.
Im Westen neigen pro-israelische Konservative wie Liberale dazu, die rechte Radikalisierung Israels in den letzten Jahrzehnten auszublenden. Den evangelikalen Christinnen und Christen überall auf der Welt ist es aber nicht entgangen. Im Rahmen ihrer rätselhaften Kosmologie teilen sie nicht nur Ben-Gvirs Fantasien von ethnischer Säuberung, sondern propagieren auch aktiv den Kampf gegen die muslimische Welt als einen Showdown von größter eschatologischer Bedeutung.
Das bringt uns zu Jair Messias Bolsonaro. Netanjahu ist dem nun scheidenden brasilianischen Präsidenten genauso eng verbunden wie Donald Trump und Viktor Orbán es sind. Doch Bolsonaros Nähe zu Israel geht weit über seine Seelenverwandschaft mit Netanjahu hinaus. Bolsonaro und seine Frau identifizieren sich auf fast schon bizarre Weise mit Israel. Michelle Bolsonaro, eine ausgesprochene Evangelikale, trat am Wahltag in Brasilien in einem T-Shirt auf, das die israelische Flagge zeigte, und erläuterte in den sozialen Medien: »Möge Gottes Segen mit Brasilien und Israel sein.«
Ist die brasilianische Rechte besorgt über das Schicksal Israels und der Jüdinnen und Juden weltweit? Nicht im Geringsten. In der Regel neigen diese Leute – wie auch die Militärdiktatur, der sie gedient haben und der sie nostalgisch verbunden sind – zu antisemitischen Ressentiments. Kürzlich aufgetauchte Videos, in denen Hunderte von Bolsonaro-Anhängern den Nazigruß ausführen, beweisen es: Die brasilianische Rechte hat kein Problem damit, sich direkt auf den deutschen Nationalsozialismus zu beziehen, in dem Wissen, dass dies bei Juden und Israelis gleichermaßen blanken Horror auslöst.
Bolsonaro und seine Anhängerschaft identifizieren sich nicht mit Israel. Vielmehr glauben sie, sie sind Israel – das Israel Lateinamerikas. Die (weißen) Evangelikalen im Süden Brasiliens denken, sie seien das auserwählte Volk Gottes und und damit die wahren »Grundbesitzer« in ihrem Land. Als solche sehen sie sich im Kampf mit fremden »Eindringlingen«, nämlich den (nicht-weißen) »Kommunisten« der Arbeiterpartei im Norden und den indigenen Minderheiten Brasiliens. Dass Bolsonaro insbesondere die mächtigen brasilianischen Großgrundbesitzer und das Agrobusiness vertritt, verdeutlicht diesen Aspekt des Landbesitzes umso mehr. Die Ähnlichkeit zwischen der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland und dem Landraub an indigenen Völkern, der im brasilianischen Amazonasgebiet vorgeht, ist frappierend: Die »Grundbesitzer« halten es nicht für nötig, sich für ihre Menschenrechtsverletzungen zu entschuldigen – nicht einmal für Mord. Schließlich haben sie Gott auf ihrer Seite. Dies ist ihre Heimat, und sich gegen »Eindringlinge« zur Wehr zu setzen, ist Selbstverteidigung.
Zwischen den beiden Ländern bestehen mit Sicherheit erhebliche Unterschiede. Brasilien ist eine Supermacht der Südhalbkugel mit einer Bevölkerung von mehr als 200 Millionen Menschen, die nicht so leicht durch internationalen Druck zum einlenken bewegt werden kann. Israel hält sich vielleicht selbst für eine Supermacht, ist aber in Wahrheit von den USA und der EU abhängig – politisch, militärisch und finanziell.
Glücklicherweise haben die Präsidentschaftswahlen in Brasilien die Grenzen von Bolsonaros Politik der Landnahme aufgezeigt. In Israel sieht die Lage anders aus – allein schon deshalb, weil Netanjahu ein weitaus geschickterer Politiker ist, als es Bolsonaro je sein könnte. So ist Netanjahu zum Beispiel in der Lage, unterschiedliche, teils widersprüchliche Ansprachen für verschiedene Zielgruppen einzusetzen. Dennoch ist die israelische Rechte schwächer, als man denken könnte. Auch hat ihre Ideologie, sie seinen die Herren des Landes, nicht so viel mit der Realität zu tun. Die Anführer dieser Bewegung mögen aus einem religiös motivierten Anspruchsdenken heraus handeln, gehen aber gleichzeitig fälschlich davon aus, sie würden auf internationaler Ebene unerschütterlich respektiert und müssten keine Strafen fürchten. Genau aufgrund dieses falschen Selbstbilds würde internationaler Gegenwind sie jedoch empfindlicher Treffen als die brasilianische Rechte.
Das bringt uns zu der Frage, was getan werden kann. Es wäre wohl unangebracht, wenn die USA und die EU sich direkt in die internen Angelegenheiten Israels einmischen würden. Angesichts dessen, dass die internationale Gemeinschaft die Verwaltung der israelisch besetzten Gebiete größtenteils finanziert, wäre es aber mehr als berechtigt, wenn sie eine standhafte Haltung gegen den Aufschwung der extremen Rechten in Israel einnehmen würde, anstatt weiterhin zu behaupten, das Land sei eine blühende Demokratie.
Sollte Netanjahus künftige Regierung die Persönlichkeitsrechte verletzten oder das israelische Rechtssystem destabilisieren, dann sollte dem nicht nur mit verbalen Verurteilungen, sondern mit Taten begegnet werden. Mit der Bundesrepublik als Führungsmacht der EU wird deren Verhältnis zu Israel auch weiterhin von Deutschlands historischer Verantwortung für den Holocaust geprägt sein. Was sich aber ändern kann, ist die Tendenz der europäischen Gemeinschaft, jede israelische Regierung höflichst zu unterstützen, unabhängig davon, wer ihre Minister sind.
Es ist so gut wie sicher, dass Ben-Gvir und andere Mitglieder seiner Partei bald wichtige Ministerämter bekleiden werden. Die USA und die EU sollten unmissverständlich klarstellen, dass diese rechtsextremen Politiker, wenn sie sich nicht öffentlich von ihren rassistischen Äußerungen distanzieren und zum Schutz der bürgerlichen Freiheiten in Israel und im Westjordanland bekennen, die Finanzierung eingestellt bekommen und von internationalen Foren ausgeschlossen werden. Alles andere würde bedeuten, dass sich die USA und die EU zu Komplizen ihrer menschenverachtenden Rhetorik und Taten machen.
Um eines klarzustellen: Dies ist kein Aufruf, Israel zu »boykottieren«. Vielmehr geht es darum, dass diese Art der Politik, die an verschiedenen Orten auf der Welt demokratische Gesellschaften unterminiert, nicht ohne Konsequenzen bleiben und von der internationalen Gemeinschaft einfach hingenommen werden. Sollte man damit gegenüber Israel Erfolg haben, könnte in Zukunft mit anderen Ländern ähnlich umgegangen werden – wenn zum Beispiel Bolsonaro in Brasilien an die Macht zurückkehren sollte. Wer glaubt, dass der Bolsonarismo einfach aus der brasilianischen Politik verschwinden wird, sollte sich Netanjahus Comeback zu Gemüte führen. Bolsonaro mag die Präsidentschaftswahl verloren haben und wird offenbar in der nächsten Zeit nicht in der Lage sein, einen Staatsstreich zu inszenieren. Aber er und seine Bewegung werden nicht einfach verschwinden. Grundbesitzer tun das selten.
Daniel G. Kressel ist Fellow der Minerva-Stiftung am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sein in Kürze erscheinendes Buch Hispanic Technocracy: Turning Fascism into Catholic Authoritarianism in Spain, Argentina, and Chile untersucht die Frühphase der neoliberalen Wende in Lateinamerika.