27. Februar 2022
Vor dem Einmarsch bestritt Putin die Geschichte der Ukraine und beschuldigte die Bolschewiki, Russland mutwillig zerstückelt zu haben. Sein erneuerter Imperialismus ist ein Angriff auf die Autonomie seiner Nachbarländer und auf den linken Internationalismus.
Wladimir Putin betreibt in seiner Rede Geschichtsklitterung.
Wladimir Putins Rede vom 21. Februar wird auf unheilvolle Weise in die Geschichte eingehen: Die Anerkennung der selbsternannten »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk gab den Auftakt für den russischen Überfall auf die Ukraine. Putin bediente in der Rede sämtliche nationalistischen, großrussischen Ressentiments. Ein Aspekt ist dabei von besonderer Bedeutung: Putins historischer Exkurs zur Entstehung der Ukraine. Denn sein Geschichtsverständnis hat weitreichende Konsequenzen.
Die Ukraine sei »für uns« (er beanspruchte, für das russische Volk zu sprechen) »nicht nur ein Nachbarland«, sondern »ein integraler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, Kultur und unseres spirituellen Raums. Das sind unsere Freunde, unsere Verwandten, nicht nur Kollegen, Freunde und ehemalige Arbeitskollegen, sondern auch unsere Verwandten und engen Familienmitglieder«. Die moderne Ukraine hingegen sei in ihrer Gänze »nach dem Oktoberputsch« vom kommunistischen Russland geschaffen worden. In dieser Zeit größter Schwäche Russlands sei Wladimir Lenin, Putins Auffassung nach, »allen Forderungen, allen Wünschen der Nationalisten im Inneren des Landes nachgekommen«.
Doch »im Hinblick auf das historische Schicksal Russlands und seiner Völker waren die leninistischen Prinzipien des Staatsaufbaus nicht nur ein Fehler, sondern weitaus schlimmer als ein Fehler. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 wurde das absolut offensichtlich«. Mit dem Zerfall der Sowjetunion hätten die ukrainischen Regierungen begonnen, »ihre Staatlichkeit auf der Leugnung all dessen aufzubauen, was uns verbindet, sie haben versucht, das Bewusstsein und das historische Gedächtnis von Millionen von Menschen, ganzer Generationen, die in der Ukraine leben, zu entstellen«. Es habe jedoch, so Putin, in der Ukraine im Grunde nie eine stabile Tradition echter Staatlichkeit gegeben. Seit 2014 stehe die Ukraine zudem unter dem politischen und wirtschaftlichen Protektorat des Westens und sei »auf das Niveau einer Kolonie mit einem Marionettenregime reduziert« worden. Durch Putins gesamte Rede zog sich der Gedanke, die Ukraine sei ein traditionsloses Gebilde, das willkürlich von Russland abgetrennt worden sei.
Die Wirklichkeit sah und sieht jedoch anders aus. Es ist richtig, dass die Ukraine Jahrhunderte lang zum Bestand verschiedener Staaten gehörte: zum Königreich Polen-Litauen, zum Russischen Reich, teils zur Habsburger-Monarchie, zur Sowjetunion und bis 1939 in ihrer Westhälfte auch zur Republik Polen. Die bislang tschechoslowakische Karpatho-Ukraine hinzugenommen war das Land 1945 erstmals gänzlich Teil der Sowjetunion.
Doch schon im März 1917 war eine ukrainische Republik entstanden, mit dem Historiker Mychajlo Hruschewskyj als Präsidenten. Die Rada (das ukrainische Parlament) forderte ihre Autonomie innerhalb eines föderativen Russlands. Im Gefolge der Oktoberrevolution erklärte die Rada die Ukraine dann zur Volksrepublik, in den Wahlen erhielten die nichtbolschewistischen Parteien eine Mehrheit. Zwei Aufstände der Bolschewiki vor Jahresende 1917 und Anfang 1918 endeten mit der Einnahme von Kiew, jedoch eroberten Truppen der Volksrepublik – unterstützt von der deutschen und österreichischen Armee – die Stadt im März 1918 zurück. Unterdessen hatte die Volksrepublik am 9. Februar mit den Mittelmächten den sogenannten »Brotfrieden« von Brest geschlossen, der Deutschland und Österreich-Ungarn ukrainische Getreidelieferungen zusicherte. Die Ergebnisse dieses Separatfriedens – und damit den Verlust der Ukraine – musste das bolschewistische Russland im anschließenden Friedensvertrag von Brest-Litowsk akzeptieren.
Im April 1918 lösten die Mittelmächte die Rada auf und setzten General Pawlo Skoropadskyj als Staatsoberhaupt ein. Dieser wurde im Dezember vertrieben und die nichtbolschewistische Volksrepublik wieder hergestellt. Die Bolschewiki fanden sich damit jedoch nicht ab: Nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte starteten sie eine Militäroffensive und nahmen im Januar 1919 Kiew sowie bis Anfang 1920 die gesamte östliche Ukraine ein. Der Krieg stand im Zeichen antijüdischer Massaker – der größten Vernichtungswelle vor Auschwitz – an denen antibolschewistische Kräfte bei Weitem die Hauptschuld trugen. Die Rote Armee suchte die Pogrome zu verhindern, doch beteiligten sich auch einige ihrer Soldaten an den Judenmorden. Der Volkskommissar Leo Trotzki ließ die Beteiligten, wo er ihrer habhaft wurde, sofort erschießen. Auch die Westukraine erklärte sich 1918 zur Volksrepublik, um sich der Ostukraine anzuschließen. Sie wurde jedoch von Polen besetzt – bis zur Aufteilung des polnischen Staates unter Deutschland und der Sowjetunion im September 1939.
Diese nur kurze Periode der Eigenstaatlichkeit sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein modernes ukrainisches, nach Unabhängigkeit strebendes Nationalbewusstsein bereits im 19. Jahrhundert bestand. Das hat Putin in seiner Rede gänzlich unterschlagen. Das Ukrainische, von manchen Russinnen und Russen als Bauerndialekt abgewertet, wurde durch Schriftsteller wie Iwan Kotljarewskyj und später Taras Schewtschenko zur Literatursprache. Dieser Prozess wurde vorangetrieben durch Historiker wie Mykola Kostomarow und Wolodymyr Antonowitsch, besonders aber durch dessen Schüler Mychajlo Hruschewskyj. In vielen Arbeiten untersuchte dieser die eigenständige Kultur des ukrainischen Volkes, deren Leistungen trotz starker Berührungspunkte nicht automatisch Teil der russischen Kultur waren. Obwohl Hruschewskyj in der Sowjetunion (er starb 1934 in Kiew) als »bürgerlicher« Historiker galt, war es ihm doch möglich, seine Forschungsarbeit fortzuführen. Ihre Ergebnisse fanden Eingang in Publikationen von Historikern in der Sowjet-Ukraine wie auch von ukrainischen Emigranten im Westen.
Die Historiker Omeljan Pritsak und Ivan Rudnytsky schufen in Harvard und an der University of Alberta in Edmonton weltweit anerkannte Forschungseinrichtungen zur Geschichte und Kultur der Ukraine. Diese arbeiteten seit 1991 in Kooperation mit ukrainischen Kolleginnen und Kollegen zusammen, um den Überbleibseln des stalinistischen Geschichtsbildes jede Wirksamkeit zu nehmen. Ein solches Geschichtsbild (jedoch ohne pseudokommunistische Tünche) wieder zu restaurieren, gehört zu den Zielen Putins und seiner Anhänger.
»Wollen Sie die Entkommunisierung?«, fragte Putin, womit er sich auf den Abriss der Lenin-Denkmäler in der Ukraine bezog, und setzte hinzu: »Nun, uns passt das sehr gut. Aber wir dürfen nicht, wie man so schön sagt, auf halbem Weg stehen bleiben. Wir sind bereit, Ihnen zu zeigen, was eine echte Entkommunisierung für die Ukraine bedeutet.« Lenins erklärter Internationalismus und Putins Großrussischer Chauvinismus sind in der Tat inkompatibel. Putins Interpretation der Geschichte zielt zugleich auf die Auslöschung linken Denkens wie auch jeder Erinnerung an die Tradition ukrainischer Staatlichkeit ab.
All dies sollte insbesondere Sozialistinnen und Sozialisten deutlich machen, dass im Moskauer Kreml ihr erbitterter Feind sitzt. Das brutale Putin-Regime ist voll und ganz für diesen Krieg verantwortlich – das gilt unabhängig von allen Kardinalfehlern des Westens. Diese liegen auf verschiedenen Ebenen und betreffen sowohl die faktische Nicht-Einbeziehung Russlands in eine europäische Sicherheitsstruktur, als es dafür noch Gelegenheit gab, wie auch die naive Abhängigkeit von russischen Rohstoffen. Vor allem aber sahen westliche Regierungen den Euromaidan 2014 als Chance für weiteren politischen Geländegewinn auf Kosten Russlands nach der Expansion der NATO seit 1994. Sie gaben der ukrainischen Regierung Rückendeckung, wann immer diese auf Spannungen mit Russland setzte. Man kann die Ukraine aber nicht ohne jede Vernunft in eine Frontstellung gegen Russland hineintreiben, wenn man die Konsequenzen vernünftigerweise nicht tragen kann. Denn Putin, und dies hätte seit Langem klar sein sollen, würde nicht »auf halbem Wege stehen bleiben«.
Schon im Sommer 2021 ließ Putin unter seinem Namen den Aufsatz »Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer« publizieren. Darin mischen sich Versatzstücke des Sowjetpatriotismus mit imperialem Denken und russischem Nationalismus. Für Putin war die Ukraine schon damals ein »Anti-Russland« ohne jede historische und politische Legitimation.
Wladimir Putin knüpft an die imperialen Gelüste des zaristischen Russlands an, die Stalin nach dem Bruch mit Lenins proklamiertem Internationalismus wieder aufnahm. Er posiert als Schutzpatron aller russischen Minderheiten, die vermeintlich vom Genozid bedroht seien. Diese gefährliche Geschichtslüge kann weitere Folgen haben: Denn solche Bevölkerungsteile leben auch in den baltischen Staaten. Würde die NATO-Mitgliedschaft dieser Staaten Russland von einem Einmarsch abhalten, falls in den USA ein wiedergewählter Präsident Trump signalisieren würde, Putin freie Hand zu lassen? Dieser Fall mag zwar überaus unwahrscheinlich klingen – doch ebenso unwahrscheinlich klang noch vor einigen Wochen, was sich in diesen Tagen abspielt.
Umso wichtiger ist eine breite internationale Friedensbewegung. Alle, die sich jetzt trauen, in Russland öffentlich gegen den Krieg zu protestieren, verdienen jede Unterstützung. Sollte sich dieser Widerstand ausweiten, könnten Putin seine imperialen Träumereien zum Verhängnis werden.
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Mario Keßler ist Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Mario Keßler ist Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.