14. Dezember 2020
Wer vom Faschismus spricht, darf vom Bildungsbürgertum nicht schweigen.
Bildungsbürger und Rechtspopulisten eng umschlungen im Tanz. Beide träumen vom vermeintlichen Glanz vergangener Zeiten.
An einem frühen Nachmittag im April 2018 bricht Unruhe aus in Dresdens Stadtbibliothek. Auf dem Altmarkt vor dem Kulturpalast, in dem sich die Bibliothek befindet, wird das grauschwarz lackierte, hölzerne Modell eines Pferdes aufgestellt. Daneben ein kleiner Pavillon mit der Aufschrift »Kunst ist frei«. Zuerst erregt das Geschehen wenig Aufmerksamkeit. Als ein junger Mann herbeieilt und sagt, dass es sich um eine »rechte Versammlung« handelt, weicht die Starre einem hektischen Treiben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eilen in das Erdgeschoss und stellen bunte Banner mit den Aufschriften »Augen auf«, »Herzen auf« und »Türen auf« in die Fenster des Kulturpalasts. Es ist offensichtlich nicht das erste Mal, dass sie diese Spruchbänder platzieren. Nach mehr als drei Jahren Pegida haben Dresdens städtische Kulturinstitutionen Routinen entwickelt, um sich von den Aktionen zu distanzieren, denen sie als Kulisse dienen.
Kurz darauf beginnt die Kundgebung. Martialische Musik ertönt und ein professionell eingesprochener Text erzählt – mit Kriegsgeräuschen unterlegt – die Legende vom Trojanischen Pferd. Das Intro endet mit mahnenden Worten: »Mit dem Mythos vom trojanischen Pferd haben wir eine bildhafte Parallele zu unserer besorgniserregenden Gegenwart gefunden.« Denn, so weiter, »nicht infolge eines Sieges der belagernden Invasoren, sondern durch Tücke und ohne die Einwohnerschaft Trojas zu befragen, wurde dem Gegner die schützende Mauer geöffnet.« Dieses »Kunstwerk« sei als ein Mahnmal zu verstehen. Wer die heutigen Invasoren sein sollen, wird nicht gesagt, ist aber allen klar. Die Versammlung ist eine auf den ersten Blick bizarr anmutende Mischung aus ehemals angesehenen Mitgliedern des Dresdner Bildungsbürgertums und Pegida-Anhängern. Eine der Hauptorganisatorinnen ist Susanne Dagen, eine bekannte Dresdner Buchhändlerin und Vertraute Götz Kubitscheks sowie Uwe Tellkamps.
Der Anteil eines lokal verankerten und aktiven Bildungsbürgertums und lokaler bürgerlicher Salons und Kultureinrichtungen wie Dagens Buchhandlung an der Etablierung reaktionärer Netzwerke ist bisher wenig beleuchtet worden. Dabei ist es angesichts der Geschichte des konservativen Bildungsbürgertums in Dresden wenig überraschend, dass sich hier um eine Vielzahl privater und halbprivater Salons eine intellektuelle Gegenkultur von rechts bilden konnte. Denn einer der Gründe für die zentrale Stellung Dresdens innerhalb eines rechten Bildungsbürgertums ist die lange Geschichte konservativer Kreise, die im Dresden der DDR eine tragende Rolle als kulturelle Gegenbewegung zum realsozialistischen Regime spielten.
Uwe Tellkamp hat diesem Milieu mit seinem gefeierten Roman Der Turm ein Denkmal gesetzt. Liest man das Buch heute, so wird schnell klar, dass es für Tellkamp und seine Dresdner Gleichgesinnten nicht einfach nur eine Loschwitzer Gegen-Boheme der 1980er Jahre beschreibt, sondern eine Analogie auf die heutige Zeit. Wieder sei die Meinungsfreiheit bedroht, wieder gäbe es totalitäre Tendenzen und wieder müsse das Loschwitzer Bürgertum von den Hängen des Nobelviertels Weißer Hirsch hinabsteigen, um für »das Volk« das Wort zu ergreifen.
Wie Tellkamp 2019 in einem Interview mit der neurechten Zeitschrift Tichys Einblick sagte: »Es gibt wieder diese Türme, in denen die Milieus für sich sind, es gibt wieder diese Blasen« die die Stadt »zwischen, grob gesprochen, den Bewohnern der besseren, wohlhabenden Viertel, den Eliten, und den Arbeitern, die es auch in Dresden gibt, dem Normalvolk« aufteilt. »Die Linke,« so Tellkamp, »hat ihre ureigene Klientel verraten, stattdessen ist die AfD zur Arbeiterpartei geworden.« Für ihn ist der »Verrat der Intellektuellen an den sogenannten einfachen Leuten … unverzeihlich«. Nun sei es, wie schon in der DDR, abermals das konservative Bildungsbürgertum, das sich mit dem »Normalvolk« verbünde, um den Sozialismus zu bekämpfen – denn, so ist für Tellkamp klar: »Das Volk ist nicht links und wird es nie sein.«
Aus welchem historischen Selbstverständnis ergibt sich dieser lokale intellektuelle und bildungsbürgerliche »Widerstand«? Wie der Dresdner Kunsthistoriker Paul Kaiser eindrücklich in seinem Buch Boheme in der DDR. Kunst und Gegenkultur im Staatssozialismus beschreibt, erhielt sich in Dresden während der DDR eine konservativ-bürgerliche Boheme, die ihr subversives Handeln vor allem im Gestus eines Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts ausführte. Man kleidete sich auf Galerieeröffnungen und privaten Feiern im Stile der Aristokratie von damals. Gemeinsam sang man alte Volkslieder und stellte damit dem technokratischen Sozialismus eine »tiefe«, im Volk und der Region verankerte Kultur entgegen.
Wie von Tellkamp beschrieben, engagierten sich viele Vertreterinnen und Vertreter dieses Milieus in der Friedensbewegung, oft verbunden mit der Hoffnung auf eine Erneuerung der nationalen Kultur. Laut Kaiser wich die Begeisterung für die Wiedervereinigung in diesen Kreisen jedoch schnell der Ernüchterung darüber, dass das Deutschland der Nachwendezeit in ihren Augen nicht zu seiner nationalkulturellen Größe des 19. Jahrhunderts zurückfinden wollte. Vielmehr sahen die Konservativen mit Schrecken, dass die westdeutsche Kulturlandschaft und zunehmend auch die Politik stark von den Neuen Linken und einem kritischen, sich dem offenen Nationalismus widersetzenden Geschichts- und Kulturverständnis geprägt wurden. Die einseitig verklärende bundesrepublikanische Sicht auf die »friedliche Revolution« von 1989 als einer Bewegung für westliche Liberalität hat diese konservativ-nationalistische Dimension in der Friedensbewegung lange Zeit überdeckt.
Heute drückt sich die Unzufriedenheit dieser konservativen Kreise in der in Dresdens Bildungsbürgertum weitverbreiteten Befürchtung aus, dass sich die BRD zu einer DDR 2.0 entwickle. Die Parolen der DDR wie »Der Sozialismus siegt« seien lediglich durch Parolen einer Welt ohne Grenzen ersetzt worden, die im Namen des globalen Kapitals und linker »One-World«-Ideologien Vielfalt und Toleranz forderten.
Ironischerweise geht dieses Heraufbeschwören eines links-kapitalistischen Totalitarismus Hand in Hand mit der Idealisierung der DDR als eines Staates, der – im Gegensatz zur Bundesrepublik – National- und Heimatstolz gefördert und eine nicht nur kulturelle, sondern auch ethnische Homogenität erhalten habe. Der Osten ist so zum Sehnsuchtsort westdeutscher Rechter wie Götz Kubitschek geworden, die der multikulturellen Gesellschaft der Bundesrepublik den Rücken zukehrten und ihre Zelte in der ostdeutschen Provinz aufschlugen.
Das aktuelle Schwächeln der AfD in den Umfragen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Netzwerke und Akteure im Dunstkreis der Neuen Rechten an gesellschaftlicher Wirkungsmacht gewinnen. Gerade in Ostdeutschland hat sich ein Milieu entwickelt, das sich aus ostdeutschem konservativem Bürgertum und zugezogenen westdeutschen Neuen Rechten zusammensetzt und beharrlich seinen Einfluss auf die lokale Kulturpolitik ausweitet. Die AfD ist längst nicht mehr die einzige parlamentarische Repräsentantin dieser Tendenz. Die Freien Wähler und Teile der ostdeutschen CDU um die sogenannte Werte-Union sind oft eng mit diesen Milieus vernetzt. Ein breites Angebot an Online- und Print-Publikationen sowie Influencerinnen und YouTubern erlaubt den Konservativen die Bildung einer abgeschlossenen alternativen Öffentlichkeit. So wäre es wenig überraschend, eines Tages die Trojanischen Pferde der Neuen Rechten nicht vor, sondern in Institutionen wie dem Kulturpalast vorzufinden.
Julian Göpffarth ist Kultursoziologe und promoviert an der London School of Economics and Political Science mit einer ethnografischen Studie rechtsintellektueller und konservativ-bildungbürgerlicher Milieus in Ostdeutschland.
Julian Göpffarth ist Kultursoziologe und promoviert an der London School of Economics and Political Science mit einer ethnografischen Studie rechtsintellektueller und konservativ-bildungbürgerlicher Milieus in Ostdeutschland.