27. Oktober 2023
Die meisten Staats- und Regierungschefs der EU haben ihre Zustimmung oder zumindest eine neutrale Haltung angesichts der »Kollektivbestrafung« der Bevölkerung im Gazastreifen bekundet. Das zeigt: So etwas wie eine »auf Regeln basierende internationale Ordnung« gibt es nicht.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Ankunft vor dem Gipfeltreffen des Europäischen Rates in Brüssel, 26.10.2023.
Im Oktober 2012 gab das norwegische Nobel-Komitee bekannt, dass der Friedensnobelpreis in diesem Jahr an die Europäische Union gehen würde. Diese habe schließlich »seit über sechs Jahrzehnten zur Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten in Europa beigetragen«. Ein Jahrzehnt später tobte auf dem europäischen Kontinent wieder ein Krieg: Russland hatte im Frühjahr 2022 begonnen, die Ukraine anzugreifen und Zivilisten zu bombardieren.
Als Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine und ihre Bürgerinnen und Bürger sprach die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober 2022 von »Kriegsverbrechen« und erklärte mit Nachdruck: »Gezielte Angriffe auf zivile Infrastrukturen – mit der klaren Absicht, Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung im heranschreitenden Winter abzuschneiden – sind reine Terrorakte. Und wir müssen diese auch als solche benennen.«
Nochmals ein Jahr später brach Anfang Oktober 2023 ein weiterer militärischer Konflikt aus: Zahlreiche Hamas-Kämpfer sind gewaltsam aus dem Gazastreifen ausgerückt und haben mehr als 1.000 israelische Zivilistinnen und Zivilisten brutal ermordet oder als Geiseln genommen. Als Reaktion auf diese Anschläge der Hamas erklärte der israelische Energieminister, dass im Gazastreifen »kein elektrischer Schalter eingeschaltet, kein Wasserhydrant geöffnet und kein Treibstofftransporter einfahren wird«, bis die Entführten freigelassen würden. Der Rest der Regierung hat seitdem entsprechend gehandelt. Die »vollständige Belagerung« des Gazastreifens ist nicht weniger als eine »kollektive Bestrafung« der dort lebenden Menschen – und damit etwas, das die Vereinten Nationen als Kriegsverbrechen werten.
Dieses Mal gab es für von der Leyen allerdings keinen Anlass, es zu verurteilen, dass »Männer, Frauen und Kinder von Wasser, Strom und Heizung« abgeschnitten wurden. Stattdessen reiste sie nach Israel, um Präsident Isaac Herzog persönlich zu treffen und mitzuteilen: »Wir sind Israels Freunde. Wenn Freunde angegriffen werden, stehen wir ihnen bei. Israel hat das Recht und die Pflicht, auf die kriegerischen Handlungen der Hamas zu reagieren. Wir fordern die sofortige Freilassung aller von der Hamas entführten Geiseln.«
Viele (vor allem linke) Kommentatorinnen und Politiker waren der Ansicht, von der Leyen habe falsch gehandelt und hätte vor allem zur Zurückhaltung aufrufen müssen. Sie gebe Israel praktisch einen »Freibrief«, hieß es. DiEM25, die von Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis gegründete Bewegung, teilte mit: »[von der Leyen] ist nicht gewählt. Sie hat kein Mandat der EU-Staaten, nach Israel zu reisen. Sie hat nicht ein einziges Mal zur Zurückhaltung, Entspannung oder zur Achtung des Völkerrechts aufgerufen.« Varoufakis selbst weigerte sich, »die Hamas oder die israelischen Siedler zu verurteilen«, betonte hingegen, dass »vor allem wir, die Europäer und Amerikaner, die Schuldigen für die Gräueltaten in Israel-Palästina sind«.
»Diesmal waren es nicht Europa oder die Vereinigten Staaten, die zu Mäßigung, Frieden und der Achtung der Menschenrechte aufriefen.«
Abgesehen von diesen Ausreißern waren von der Leyen und US-Präsident Joe Biden mit ihrer Haltung im Westen im Allgemeinen jedoch nicht allein: Unmittelbar nach den Angriffen der Hamas, und als Israel bereits den Gazastreifen bombardierte, verurteilten die führenden liberalen Politiker Europas – wie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder der niederländische Premier Mark Rutte – die Taten der Hamas, konnten sich zeitgleich aber nicht zu einer Beileidsbekundung für die zivilen palästinensischen Opfer der Bombenangriffe auf Gaza durchringen. Ähnliches ließen die rechten Regierungen Polens, Ungarns und Italiens in ihren jeweiligen Stellungnahmen verlautbaren. In der gemeinsamen Erklärung der Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Deutschland und Italien sowie Großbritannien und den Vereinigten Staaten heißt es: »Wir werden vereint und koordiniert handeln, gemeinsam als Verbündete und als gemeinsame Freunde Israels, um sicherzustellen, dass Israel in der Lage ist, sich zu verteidigen.«
Die Reaktionen anderer Regierungen erschienen erstaunlicherweise besonnener: Saudi-Arabien, das für seine Menschenrechtsverletzungen bekannt ist und nach wie vor den tödlichen Krieg im Jemen am Laufen hält, erinnerte an seine vorherigen Warnungen vor den Gefahren, »die sich aus der Fortsetzung der Besatzung, der Beraubung des palästinensischen Volkes seiner legitimen Rechte und der Wiederholung der systematischen Provokationen gegen seine Heiligtümer ergeben«. China, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit an der uighurischen und tibetischen Bevölkerung begeht, erklärte, dass »Israels Handlungen über die Selbstverteidigung hinausgehen und es die Appelle der internationalen Gemeinschaft beherzigen sollte.«
Diesmal waren es also nicht Europa oder die Vereinigten Staaten, die zu Mäßigung, Frieden und der Achtung der Menschenrechte aufriefen. Vielmehr forderten Länder wie China, Saudi-Arabien und sogar Russland beide Seiten in diesem Konflikt auf, »einen sofortigen Waffenstillstand anzustreben, auf Gewalt zu verzichten, Zurückhaltung zu üben und [...] einen Verhandlungsprozess zu beginnen.«
Das wirft die Frage auf, warum westliche Regierungen, die schließlich dafür bekannt sind, nicht selten mit Menschlichkeit und Moral zu argumentieren, so still bleiben, wenn Israel Kriegsverbrechen begeht. Überhaupt: Wie kann es sein, dass diverse Regierungen, die international für ihre Menschenrechtsverletzungen und ihre Beteiligung an Krieg und gewaltsamer Aggression bekannt sind, derzeit zur Mäßigung aufrufen – während der Westen die Augen vor zahlreichen Formen der Unterdrückung in Palästina zu verschließen scheint?
Zwei militärische Konflikte – um nicht zu sagen ausgewachsene Kriege – beschäftigen uns im Westen derzeit. Der eine ist der Angriff der Hamas mit seiner brutalen Gewalt und der verabscheuungswürdigen Ermordung israelischer Bürgerinnen und Bürger, der aktuell eine nicht minder brutale Antwort der israelischen Regierung nach sich zieht. Der andere wird in der Ukraine ausgetragen: trotz schwerer Verluste im Laufe des Sommers scheint er sich nicht wirklich in die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Das einzige Ergebnis sind noch mehr Opfer auf beiden Seiten. Nur die Rüstungsindustrie profitiert von der Fortsetzung dieses Krieges.
Dass es diese beiden Konflikte gibt, ermöglicht uns auch einen (schmerzhaften) Vergleich zwischen den EU-Reaktionen auf die von Russland begangenen Taten und den – zwar unter sehr anderen Vorzeichen erfolgenden, aber doch ähnlichen – Aktionen Israels. In dem einen Fall benutzen westliche Regierungschefs ein ganzes Register von Begriffen, um die von Russland begangenen Kriegsverbrechen zu kritisieren und zu verurteilen. Im anderen Fall bemühen sich dieselben politischen Führungskräfte eifrig, ihre Unterstützung für Israel zu bekunden.
Von der Leyen sagte gar: »Ich weiß, dass die Reaktion Israels zeigen wird, dass es eine Demokratie ist.« Das ist eine gänzlich andere Aussage als ihre Reaktion auf die vorherige Eskalation im Mai 2021, als die Kommissionschefin tweetete: »Sehr besorgt über die Situation in Israel und Gaza. Ich verurteile die willkürlichen Angriffe der Hamas auf Israel. Zivilisten auf allen Seiten müssen geschützt werden. Die Gewalt muss jetzt enden« [Hervorhebung hinzugefügt].
»Auf welcher Grundlage kann man das Verhalten Chinas, Russlands, Indiens oder des Irans kritisieren, wenn Europa genau dieselben Praktiken bedingungslos gutheißt, weil sie von einem historischen Verbündeten ausgeübt werden?«
Es scheint eine neue Ära angebrochen zu sein, in der sich die westlichen Mächte nicht mehr auf eine »internationale, regelgebundene« Argumentation berufen, um ihre liberale Ordnung zu rechtfertigen, sondern eine neoimperialistische Rhetorik pflegen, in der Macht halt wichtiger ist als irgendwelche Regeln. Die derzeitige europäische Politik wird von einem Freund-Feind-Komplex bestimmt, der sich nicht mehr auf die Einhaltung von internationalem Recht, sondern lediglich auf die Unterstützung der Verbündeten konzentriert. Zwei Wochen lang gab es in von der Leyens Erklärungen keinen Aufruf zur Zurückhaltung, keinen Verweis auf internationales Recht oder auf grundlegende Menschenrechte. Die sonst so technokratisch-nüchtern agierende Europäische Kommission hat vermutlich noch nie so typisch Trumpesk geklungen und in Freund-Feind-Mustern argumentiert.
Die Sichtweise der EU und der USA ist klar: Wir sind »gemeinsame Freunde Israels«; Israel wird »angegriffen«; es hat »das Recht und die Pflicht, zu reagieren«; unsere Unterstützung ist »unerschütterlich«, »geeint«, »unumstößlich«; und »die Hamas allein ist verantwortlich« für die »unprovozierten« Angriffe vom 7. Oktober.
Verweise auf das Völkerrecht seitens anderer Regierungschefs waren rar und kamen recht spät. Eine Verurteilung der andauernden Menschenrechtsverletzungen Israels gab es lediglich von Regierungsvertretern in kleinen europäischen Ländern wie Norwegen, Irland und Belgien. Niemand wagt es, die Verantwortung für das zu übernehmen, was Europa und die Vereinigten Staaten zuvor jahrelang zugelassen haben. Nämlich, dass sich das von der israelischen Regierung geduldete und geförderte kolonialistische Siedlerprojekt zu einem (laut internationalen Menschenrechtsorganisationen) Apartheidregime entwickelt hat.
Im Grundstudium Europapolitik lernen Studierende etwas über die »normative«, also »auf Normen basierende«, oder auch »transformative Kraft« der EU. Demnach sind die EU-Nachbarstaaten angesichts der positiven wirtschaftlichen Beziehungen zur Union und manchmal auch nur aufgrund der Aussicht auf einen möglichen EU-Beitritt geneigt, ihre politischen und wirtschaftlichen Systeme umzugestalten, die Korruption zu bekämpfen, die Demokratie zu stärken und liberale Rechte und Freiheiten zu achten. Klassische Lehren besagen, die EU sei somit zu einer »normativen Macht« geworden, indem sie »ihre Außenbeziehungen auf einem Katalog von Regeln und Normen basiert, die denen der [...] Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte näher kommen, als es die meisten anderen Akteure der Weltpolitik es vermögen«.
Doch die Doppelmoral im russisch-ukrainischen Krieg und im israelisch-palästinensischen Konflikt beweist einmal mehr, wie ideologisch geprägt solche Vorstellungen von Europa als »normenbasierter Macht« sind. Von der Ukraine bis Palästina und vom Kosovo und Bosnien-Herzegowina bis zur (wohl ehemaligen?) armenischen Enklave Berg-Karabach zieht die Europäische Kommission Stabilität der tatsächlichen Stärkung der Demokratie vor (man könnte stattdessen wohl von einer erhofften »Stabilitokratie« sprechen). Brüssel entscheidet sich immer wieder dafür, die wirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen im eigenen Interesse zu stärken, statt tatsächlich die Menschenrechte zu vertreten oder zu garantieren.
Auf diese Weise untergräbt die EU womöglich die Rechte und Freiheiten, die den Europäerinnen und Europäern selbst so wichtig sind. Man muss sich ernsthaft fragen: Auf welcher Grundlage kann man das Verhalten Chinas, Russlands, Indiens oder des Irans kritisieren, wenn Europa genau dieselben Praktiken bedingungslos gutheißt, weil sie von einem historischen Verbündeten ausgeübt werden? Und: Wie lange wird es dauern, bis dies auf die westliche Bevölkerung zurückschlägt? Sollten sich die EU-Bürgerinnen und -Bürger jemals in einer unterlegenen Position wiederfinden (wie es beispielsweise aktuell bei den unter Besatzung lebenden Ukrainern der Fall ist), können sie sich wohl nicht mehr darauf berufen, »damals« humanitäre Grundsätze für andere garantiert zu haben, als sie und ihre Verbündeten die dominierende Macht waren. Was könnten wir in diesem Fall realistischerweise von anderen an Hilfe und Unterstützung erwarten?
Das europäische Projekt soll im Geiste des »Nie wieder« aufgebaut werden. Nie wieder wollen wir die Schrecken wiederholen, die der Nationalismus des Ersten Weltkriegs und der Faschismus des Zweiten Weltkriegs entfesselt haben, diese beiden Katastrophen, die weite Teile Europas in Gräberfelder verwandelt haben. Wenn man das von der EU finanzierte Haus der Europäischen Geschichte in Brüssel besucht, ist die zugrundeliegende Botschaft klar: Das moderne Europa ist eine liberale Kraft, die zuerst den Faschismus besiegte und sich später auch als siegreich über den Sowjetblock erwies. In der Haupthalle werden Darstellungen der »beiden Totalitarismen« einander gegenübergestellt als die Schreckensbilder, in die Europa niemals zurückfallen darf.
Wenn sich die EU aber wirklich als liberale Macht versteht, die für die »Förderung von Frieden und Versöhnung, Demokratie und Menschenrechten« steht, sollte sie einige der jüngsten Erklärungen zurücknehmen und alles in ihrer Macht Stehende tun, um Israel dazu zu bringen, die universellen Prinzipien und internationalen Regeln zu respektieren, die die Europäische Union zu verteidigen vorgibt. Andernfalls droht Europa, wieder in ein Regime zurückzufallen, das einst als Gegner definiert worden war – und ich rede hier nicht vom Staatssozialismus.
Zum aktuellen Zeitpunkt kann die EU nicht behaupten, eine »liberale«, »normenbasierte« oder »transformative« Kraft zu sein. Ihre Doppelmoral in Bezug auf Kriegsverbrechen deutet darauf hin, dass sie strategische Verbündete für wichtiger hält als internationale Regeln – und sich damit eben nicht als Verteidigerin einer »liberalen Ordnung«, sondern als ein Imperium geriert. Wie die Kommissionschefin es ausdrücken würde: »Das müssen wir auch so benennen.«
Jouke Huijzer ist Doktorand in Politikwissenschaften an der Freien Universität Brüssel und Mitherausgeber von Jacobin NL.