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20. Dezember 2025

»Palästina-Demos sind ein Laboratorium dafür, wie weit der Staat gehen kann«

Lea Reisner wurde als parlamentarische Beobachterin der Linken bei einer palästinasolidarischen Demo von einem Polizisten ins Gesicht geschlagen. Im Interview spricht sie über Polizeigewalt, Meinungsfreiheit und Internationalismus in ihrer Partei.

Linke-MdB Lea Reisner warnt vor einer fortschreitenden Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik.

Linke-MdB Lea Reisner warnt vor einer fortschreitenden Einschränkung der Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik.

Foto: Jennifer Fey

Bereits im Januar 2025 erlebte der Linken-Abgeordnete im Sächsischen Landtag Nam Duy Nguyen auf der Demo gegen den AfD-Parteitag in Riesa Polizeigewalt in seiner Rolle als parlamentarischer Beobachter. Das entfachte eine Diskussion über die Rolle parlamentarischer Beobachter auf Demonstrationen.

Rechtlich gesehen gibt es diesen Status gar nicht, da laut dem Juristischen Dienst des sächsischen Landtags Abgeordneten im Vergleich zum »Normalbürger« versammlungsrechtlich keine Sonderstellung zukommt. Trotzdem erlaubt die rechtliche Immunität von Parlamentariern andere Möglichkeiten, polizeiliches Handeln auf Demonstrationen zu dokumentieren und zu kontrollieren.

Besonders in Berlin waren die Demonstrationen gegen Israels Genozid in Gaza von massiver Polizeigewalt geprägt. Auf Social Media kursieren Videos, auf denen zu sehen ist, wie die Linken-Bundestagsabgeordnete Lea Reisner von einem Polizisten unvermittelt ins Gesicht geschlagen wird. Mit Jacobin sprach sie über Polizeigewalt und Repression gegen Palästinasolidarität, AfD-Verbot und Internationalismus in der Partei die Linke.

Du warst am 7. Oktober auf einer Palästina-Demo der Alliance of International Feminists als parlamentarische Beobachterin der Linken. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie ein Polizist Dir unvermittelt ins Gesicht schlägt. Kannst Du kurz schildern, was da genau geschehen ist?

Ich habe dort nicht demonstriert, sondern bin erst relativ spät am Abend, so gegen 22 Uhr hinzugekommen, nachdem mir befreundete Journalistinnen geschrieben hatten, dass dort gerade Polizeigewalt stattfindet, die völlig eskaliert. Ich habe nicht mitbekommen, was davor passiert ist. Als ich ankam, gab es bereits einen Polizeikessel. Darin waren viele Menschen, die offensichtlich überhaupt nichts mit der Demo zu tun hatten. Sie waren einfach aus den umliegenden Restaurants gekommen und fanden sich auf einmal in diesem Kessel wieder. Relativ viele von ihnen waren minderjährig.

Als ich dazukam, war die Polizei dabei, den Kessel zu räumen. Die Polizei zog einzelne Leute raus und wendete dabei unverhältnismäßige Gewalt an. Anschließend wurden die Personalien der Menschen aufgenommen. Das hat ewig gedauert. Ich war einige Wochen vorher auf der Rheinmetall-Entwaffnen-Demo in Köln und das Vorgehen hat mich sehr stark daran erinnert. Bevor die Polizei Menschen mit Gewalt aus einem Kessel reißt, müsste sie ihnen wenigstens die Möglichkeit geben, den Kessel freiwillig zu verlassen. Und genau das ist dort wieder nicht passiert.

Ich stand außerhalb des Kessels und habe beobachtet, wie fünf Polizisten hineinstürmten und eine einzelne Personherauszogen. Ich bin daraufhin zu ihnen gegangen und habe versucht, ihnen zu sagen, dass sie wider ihrer Verpflichtung handeln, indem sie ohne Vorwarnung Gewalt anwenden. Die Verhältnismäßigkeit an sich sei mal dahingestellt. Dann kam der Schlag. Ich war extrem überrascht, weil wir durch unsere Westen sehr deutlich als parlamentarische Beobachterinnen gekennzeichnet waren. Zu dem Zeitpunkt war ich schon ungefähr eine Stunde vor Ort und muss erkannt worden sein – allein schon weil ich mit meinem Abgeordnetenausweis immer wieder in den Kessel rein und raus gegangen bin, um mir einen Überblick zu verschaffen.

Ich habe in der Vergangenheit schon Polizeigewalt erfahren. Das ist mir also nicht völlig neu. Mir war klar, dass es zu so einer Situation kommen kann. Dass sich ein Beamter dann einfach umdreht, aus der Kette tritt, mir einen Schlag ins Gesicht gibt und sich danach wieder in die Reihe einsortieren lässt, passt erschreckend gut zu dem, was ich bis dahin bereits gesehen hatte. Die Situation lässt sich auf dem Video eindeutig erkennen. Ich habe unmittelbar danach Anzeige erstattet und mir wurde mitgeteilt, dass die Ermittlungen aufgenommen wurden, mehr nicht. Jetzt bin ich gespannt, was daraus wird.

Erwartest Du Dir etwas von dieser Anzeige oder der polizeilichen Aufarbeitung?

Wäre ich keine Parlamentarierin, würde ich sagen: Nein. Ich bin da ja absolut kein Einzelfall. Auf palästinasolidarischen Demos in Berlin erleben Menschen regelmäßig Polizeigewalt. In meinem Fall ist das Video so eindeutig, dass ich bisher immerhin keine Gegenanzeige bekommen habe. Oft läuft es nämlich so, dass die Polizei einfach eine Gegenanzeige erstattet, und man dann auf einmal selbst in einer Rechtfertigungssituation ist.

»Gerade wenn es sich um kleinere Demonstrationen handelt, macht es manchmal einen Unterschied, wenn die Polizei weiß, dass jemand zuschaut, der oder die Öffentlichkeit herstellen kann.« 

Es kann also gut sein, dass in diesem Fall lediglich wegen meines Status als Parlamentarierin ernsthaft ermittelt wird. Ich finde das aber in jedem Fall wichtig, weil Verfahren gegen die Polizei zu oft sinnlos bis gefährlich für die Betroffenen sind. Denn die Gegenanzeige kommt meist sofort, schüchtert ein und schafft ein Drohszenario. Das ist furchtbar frustrierend. Ich hoffe, dass die Tat Konsequenzen hat – auch für die Menschen, die nicht den öffentlichen Status haben, den ich in diesem Moment genieße.

In den letzten paar Jahren ist das Thema Polizeigewalt immer weiter in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Das hatte nicht zuletzt mit der antirassistischen Bewegung zu tun, die Polizeigewalt gegen vor allem junge migrantische Menschen thematisiert hat. Siehst Du einen Zusammenhang zwischen rassistischer Polizeigewalt und der Polizeigewalt, die man auf Demonstrationen wie der am 7. Oktober beobachten kann?

Ja, auf jeden Fall. Auf den Black-Lives-Matter-Demos, die sich eigentlich gegen Polizeigewalt richteten, haben gerade schwarze Menschen Polizeigewalt erfahren. Da gibt es einen Zusammenhang, aber ich glaube, es geht noch ein bisschen weiter. Wir haben in den letzten Jahren eine Normalisierung von Polizeigewalt erlebt. Besonders beobachten konnten wir das ab 2015 mit der Gewalt gegen Migrantinnen und Migranten an den europäischen Außengrenzen. Als sich Gewalt ebenfalls gegen die Klimabewegung richtete, gab es anfangs zwar durchaus noch eine Art Aufschrei, aber auch der ist ziemlich schnell verpufft. Seitdem hat die Eskalation von Polizeigewalt, die wir immer öfter erleben, einen gewissen Gewöhnungseffekt erzeugt.

Natürlich sind migrantische Menschen und Menschen, die nicht weiß sind, überproportional betroffen. Ebenso auch Menschen, die armutsbetroffen oder wohnungslos sind. Die Gewalt ist eine Folge von Rassismus, aber auch eine Klassenfrage. Für diese Menschen stellt die Staatsgewalt keine Sicherheit dar. Und ich glaube, das ist etwas, was wir auch als Linke dringend mehr thematisieren müssen.

Palästinasolidarische Demos und Veranstaltungen sind ein Laboratorium dafür, wie weit der Staat gehen kann. Nicht nur bei physischer Gewalt, sondern auch bei juristischen Repressionen, zum Beispiel wenn es um die Meinungsfreiheit geht. Es wird immer wieder versucht, Dinge zu verbieten, bei denen juristisch gar nicht klar ist, ob zum Beispiel ein Verbot überhaupt Bestand hat, aber man sitzt halt am längeren Hebel und lässt es drauf ankommen. Das war an den Grenzen, an denen ich gearbeitet habe, genauso. Verfügungen, mit denen versucht wurde, Schiffe festzusetzen, die Seenotrettung betreiben, wurden von Gerichten am Ende immer wieder gekippt. Dieser Repressionsapparat ist extrem zermürbend, für einzelne Menschen und für Bewegungen.

Parlamentarische Beobachter genießen laut aktuellem Recht keine juristische Sonderrolle. Ein Antrag der Linksfraktion dazu wurde 2021 im Bundestag abgelehnt. Dein Parteikollege Nam Duy Nguyen erlebte bereits im Januar 2025 als parlamentarischer Beobachter in Riesa Polizeigewalt. Was ist Deine Auffassung der Rolle parlamentarischer Beobachter auf Demonstrationen?

Als Teil der Opposition ist es meine Aufgabe, die Staatsgewalt, die von dieser Regierung ausgeübt wird, zu kontrollieren. Deshalb ist es wichtig, sich genau anzuschauen, wie sie auf Demonstrationen eingesetzt wird, welche Menschen sie trifft und welche politischen Interessen sie schützt. Gerade wenn es sich um kleinere Demonstrationen handelt, macht es manchmal einen Unterschied, wenn die Polizei weiß, dass jemand zuschaut, der oder die Öffentlichkeit herstellen kann.

»Wir haben ein riesiges Problem mit einer fortschreitenden Einschränkung der Meinungsfreiheit.«

Es macht einen Unterschied, ob ich als Abgeordnete etwas thematisiere oder wenn Aktivistinnen dies tun. Das ist falsch, denn natürlich sollte man den Leuten, die von Polizeigewalt betroffen sind, mindestens genauso viel Glauben schenken wie mir, wenn ich diese beobachtet habe. Das ist aber leider nicht die Realität, in der wir gerade leben. Deswegen glaube ich, dass es wichtig ist, dort genau hinzugucken. Wir haben zum Beispiel bei »Rheinmetall Entwaffnen« erlebt, dass es einen Unterschied gemacht hat, dass wir uns als Abgeordnete zu der Polizeigewalt geäußert haben, die dort stattgefunden hat

Kannst Du schildern, was Du als parlamentarische Beobachterin bezüglich der Repression gegen Palästinasolidarität beobachtet hast?

Die Palästina-Solidaritätsbewegung ist wahrscheinlich die größte oder aktivste linke Bewegung in Deutschland seit Covid. Wir erleben hier eine Bewegung, die der Bundesregierung ihr Versagen in Bezug auf die Achtung von Menschenrechten vorhält. Die einfordert, dass Deutschland sich an internationales Recht hält und keinen Genozid unterstützt. Das fällt in eine Zeit, in der wir einen massiven gesellschaftlichen Rechtsruck erfahren, in der Vermögenssteuer und kostenloses Mittagessen an Schulen auf einmal von Regierungsmitgliedern als linkspopulistischer Quatsch abgetan wird.

Mit Sicherheit spielt in der Repression, die sie erfährt, ebenfalls eine große Rolle, dass ein großer Teil der Menschen, die in der Palästina-Solidarität aktiv sind, nicht weiß sind. Rassismus ist dabei also auch ein Thema. Gleichzeitig sieht man: Antimilitaristische Demonstrationen, wie zum Beispiel »Rheinmetall Entwaffnen«, wurden in den letzten Jahren immer massiver angegriffen. Alles, was den Status quo und die zunehmende Faschisierung angreift und eine Gegenöffentlichkeit zu dem gesellschaftlichen Mainstream von Militarisierung und Austerität schafft, wird als störend empfunden und entsprechend hart bekämpft.

Du hast vorhin schon von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit gesprochen. Heißt das, die Linke muss sich stärker für das Recht auf Meinungsfreiheit engagieren? Du warst auch auf »Widersetzen« am 29. November gegen die AfD-Parteijugend als parlamentarische Beobachterin auf der Demo. Wie verträgt sich das also mit der Forderung, die AfD zu verbieten?

Ich glaube, wir haben ein riesiges Problem mit einer fortschreitenden Einschränkung der Meinungsfreiheit. Und nicht nur der, sondern auch der Kunst- und der Wissenschaftsfreiheit. Denn auch die werden an vielen Stellen eingeschränkt, zum Beispiel als Nancy Fraser wegen ihrer Äußerungen zu Palästina nicht an der Uni Köln sprechen durfte. Das ist ein sehr großes Problem und ich glaube, dass es uns als Linke gut ansteht, uns ganz klar auf die Seite von Kunst, Kultur, Wissenschaft und Presse zu stellen und ihre Einschränkung und Repressionen nicht mitzutragen.

Für mich sind beim AfD-Parteiverbot zwei Aspekte zu unterscheiden. Zum einen glaube ich, dass es ein Parteiverbotsverfahren gegen die AfD braucht. Wir haben es hier mit einer Partei zu tun, die völkisch-nationalistisch ist und eine reale Gefahr für viele Menschen darstellt. Gleichzeitig haben wir eine Regierung, die bereits ganz viele der Forderungen dieser faschistischen Partei umsetzt. Allein auf dieses Verbotsverfahren zu setzen, hilft also überhaupt nicht. Wir brauchen eine radikal andere Politik in diesem Land. Wenn wir die Faschisierung zurücktreiben wollen, dann müssen wir vieles ganz grundsätzlich infrage stellen, nur ein Beispiel wäre die Vermögensverteilung.

»Ich stelle das AfD-Verbot nicht in den Vordergrund meiner politischen Forderungen. Trotzdem glaube ich, dass es Sinn macht, es zumindest einzuleiten und zu schauen, ob man auf diesem Weg Erfolg haben kann.«

Die AfD wird von der materiellen Ungleichheit und Unsicherheit vorangetrieben, aber es gibt natürlich auch Kräfte in anderen Parteien, die einigen Ideen der AfD nicht abgeneigt sind. Das gilt nicht nur für ihre rassistische Ideologie, sondern auch für ihre Wirtschaftspolitik. Trotzdem glaube ich, dass es ein Verbotsverfahren braucht, da sich in der AfD Leute versammeln, von denen ich nicht möchte, dass sie Zugang zu Geld oder Informationen bekommen, wie sie uns als Mitgliedern und Mitarbeiterinnen des Bundestages zustehen. Die AfD besteht in relevanten Teilen aus handfesten Faschisten und denen will ich Ressourcen und Räume nehmen, wo immer es möglich ist. Das halte ich für notwendig, denn diese Leute sind brandgefährlich.

Deshalb ist es gut, dass junge Leute auf die Straße gegangen sind. »Widersetzen« war keine homogene Jugendbewegung, sondern sehr divers. Da waren von Gewerkschafterinnen bis zu K-Gruppen alle möglichen Menschen dabei. Und ich glaube, dass die Teilnahme an einer solchen Aktion zu Politisierung führt. Wir dürfen als antifaschistische Bewegung aber nicht beim bloßen Protest stehen bleiben, sondern müssen dort ansetzen und einen Schritt weiter gehen.

Wir müssen uns darüber Gedanken machen, wie das Potenzial dieser Politisierung junger Menschen über antifaschistische Themen am Ende in eine Politik münden kann, die den Menschen wieder die Hoffnung gibt, dass eine andere Welt möglich ist. Es braucht ein mutiges Thematisieren der Klassenfrage und konkrete, organisierende Momente, die aufzeigen, dass der Konflikt zwischen oben und unten verläuft und nicht zwischen innen und außen.

Wenn Du Dich so klar für ein AfD-Verbot aussprichst – denkst Du nicht, dass das auch politische Mechanismen sind, die auf die Linke negativ zurückfallen könnten? In den 1950er Jahren wurde die KPD verboten. Bei den Corona-Demonstrationen hat man gesehen, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit eingeschränkt wurde. Das war zwar eine vor allem rechte Mobilisierung, aber diese Einschränkung des Rechts auf Versammlungsfreiheit wurde dann auch gegen Linke, konkret gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung eingesetzt. Wenn man sich dafür stark macht, dass diese Repressionsinstrumente des Staates gegen rechts eingesetzt werden, werden sie dann nicht auch gegen Linke eingesetzt?

Das werden sie jetzt schon, die Hufeisen fliegen tief im Bundestag. Die CDU kritisiert eigentlich nie die AfD, ohne gleichzeitig noch zu sagen, wie schlimm diese Sozialisten sind. Deswegen finde ich, wir müssen da sehr vorsichtig sein. Ich halte das AfD-Verbot trotzdem für richtig, weil ich wirklich glaube, wir müssen ihnen die Zugänge zu ihren Ressourcen nehmen. Wir hätten darauf verzichten können, wenn sich die herrschende Politik in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren dafür entschieden hätte, tatsächlich Politik für Menschen und nicht nur für kapitalistische Interessen zu machen. Dann wäre die AfD möglicherweise gar nicht so stark geworden. Aber bei der Stärke, den personellen Ressourcen des Bundestages und den Zugängen zu Geld, über die sie jetzt verfügen, sieht das anders aus.

Ich stelle das AfD-Verbot nicht in den Vordergrund meiner politischen Forderungen. Trotzdem glaube ich, dass es Sinn macht, es zumindest einzuleiten und zu schauen, ob man auf diesem Weg Erfolg haben kann. Aber wie gesagt: Die Lösung für die zunehmende Faschisierung der Gesellschaft bietet es selbstverständlich nicht. Und ja natürlich: Das Risiko, dass Die Linke hier ebenfalls in den Fokus genommen wird, gibt es. Damit müssen wir uns beschäftigen.

Noch mal zurück zum Thema Palästina. Der 27. September war ein Meilenstein für die Bewegung, weil es die bisher größte palästinasolidarische Demo in Deutschland war – das erste Mal mit Beteiligung der Parteispitze der Linken. Dafür hat es aber auch einiges an Überzeugungsarbeit gebraucht. Was glaubst Du, warum es so lange gedauert hat, bis die Partei dahingehend aktiv wurde?

Ich glaube, das hat verschiedene Gründe. Den Beschluss, dass man eine Demo macht, gab es schon eine Weile. Man muss sich hier aber den Kontext auch nochmal anschauen: Die jetzige Parteiführung wurde gewählt und zwei oder drei Wochen später ist die Ampel auseinandergeflogen. Sie musste von jetzt auf gleich einen Wahlkampf organisieren. Das war eine riesige Herausforderung. Auf die Bundestagswahlen folgten sofort die Kommunalwahlen in NRW, es ging also wirklich alles Schlag auf Schlag. Außerdem gab es auf einmal 120.000 Parteimitglieder, die erstmal in Strukturen eingebunden werden müssen. Ich habe das auch bei mir im Kreisverband erlebt.

»Wir müssen erkennen, dass es weltweit vor allem (ultra)rechte Regierungen sind, die bedingungslos und kritiklos an der Seite Israels stehen. Darin müssen wir uns verhalten.«

Ich glaube gar nicht, dass der Wille gefehlt hat, sondern an vielen Stellen die Ressourcen. Es gab den Anspruch, eine Demo auf die Beine zu stellen, der sich ein möglichst breiter Teil der Bevölkerung anschließen möchte. Es gab zu dem Zeitpunkt bereits Umfragen, in denen 60 Prozent der Deutschen gesagt haben: Es darf keine Waffenlieferungen nach Israel geben. Das hat sich aber nicht auf der Straße gezeigt. Wir wollten das ändern und am Ende ist uns das auch gelungen. Dafür brauchte es einen Aushandlungsprozess.

Du hast gerade schon gesagt, dass über 60 Prozent der Bevölkerung gegen Waffenlieferungen an Israel sind. Das umfasst sicherlich auch Wählerinnen von konservativen Parteien. Trotzdem war es nicht diese Breite, die auf der Demo am 27. September repräsentiert war. Eine Studie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung hat ergeben, dass die Teilnehmerinnen der Demo überwiegend jung, sehr gebildet und politisch links verortet waren. Denkst Du, dass es notwendig ist, viel breitere Bündnisse zu schließen, auch mit Kräften, mit denen man politisch nicht einverstanden ist, wenn man sich auf das gemeinsame Ziel »keine Waffenlieferungen« einigen kann?

Das haben sich auch schon die Klimabewegung oder Bündnisse wie »Unteilbar« gefragt – da waren zum Beispiel auch eher konservative Organisationen dabei. Ich glaube, am Ende braucht es von allem ein bisschen. Ich finde, die Kirchen sind ein spannendes Thema in diesem Kontext: Wir haben in der Seenotrettung Unterstützung von der evangelischen Kirche bekommen. Die hat immer wieder klare Worte gefunden und die Bewegung unterstützt. In den USA oder in Südamerika sind die Kirchen ein relevanter Teil von Fluchthilfe-Bewegung, weil sie über Kirchenasyl unterstützen können.

Ich glaube, es braucht sowohl diese breiten Bündnisse, die auf anderen Ebenen Druck machen, als auch diejenigen, die aufpassen, dass wir nicht zu zentristisch werden. Denn wir müssen immer davor hüten, dass wir am Ende nicht mehr glaubwürdig sind, vor allem für diejenigen, die unmittelbar von bestimmten Krisen betroffen sind.

Es gibt trotz dieser großen Demo gegensätzliche Tendenzen innerhalb der Linkspartei, was die Frage der Solidarität mit Palästina angeht. Es bauen sich gerade Kräfte auf, die sehr solidarisch mit Palästina sind, aber auch solche, die das nicht wollen. Du bist Sprecherin für internationale Politik. Was ist Deine Einschätzung zum Stand der internationalen Solidarität innerhalb der Linkspartei aktuell?

Wir haben mit dem Austritt von Sahra Wagenknecht und ihren Gefolgsleuten die Leute verloren, die in den letzten Jahren die Position zu internationaler Politik geprägt haben. Wir sind gerade in einer Situation, wo diejenigen, die immer besonders sichtbar und laut außenpolitische Positionen für die Linke vertreten haben, weg sind. Wir müssen und wollen gerade viel neu entwickeln, vor allen Dingen in den außenpolitischen Fragen. Wie muss eine linke, internationalistische, sozialistische Außenpolitik 2025 aussehen?

Wir haben eine neue Weltlage, auf die wir Antworten geben müssen. Wir haben neue Akteure, wir haben Trump im Weißen Haus, die klassische Ost-West-Achse ist Geschichte. Der Globale Süden hat eine neue Rolle. Wir haben aber gerade, was Palästina angeht, nicht einen klassischen Nord-Süd-Konflikt, weil auch in Europa Länder, wie etwa Spanien, sehr solidarisch an der Seite Palästinas stehen. Auch Länder wie Frankreich oder Großbritannien haben sich entschieden, Palästina als Staat anzuerkennen. Wir müssen erkennen, dass es weltweit vor allem (ultra)rechte Regierungen sind, die bedingungslos und kritiklos an der Seite Israels stehen. Darin müssen wir uns verhalten.

Deutschland hat eine spezielle Beziehung zu Israel, das ist so. Es ist auch so, dass wir gerade als Deutsche ein Augenmerk auf den Schutz jüdischen Lebens haben müssen, und zwar nicht nur in Israel, sondern weltweit. Wir haben als Partei auch Partner in Israel, etwa Hadash, eine kleine, aber sehr kämpferische linke Partei, die massiven Repressionen ausgesetzt ist. Sie brauchen unsere Solidarität und unsere Unterstützung. Genauso wie linke Bewegungen in Israel, wie Standing Together oder Mersavot, die gesellschaftlich marginalisiert werden, aber so wichtig sind.

»Ich finde, es gab in der Vergangenheit auch bei uns Doppelstandards in der Außenpolitik. Diese müssen wir überwinden.«

Insgesamt hat sich die Partei stark verjüngt. Es sind viele junge Leute eingetreten, für die der Nahostkonflikt bis zum 7. Oktober keine große Rolle gespielt hat. Herauszufinden, wie man da gute und fundierte Positionen entwickelt, ist ein bisschen wie mit dem Demoaufruf: Es braucht Zeit, aber dann wird es am Ende gut. Das ist der Prozess, in dem wir uns gerade befinden.

Du meintest, Du bist mit vielen von den älteren internationalen politischen Positionen nicht einverstanden gewesen. Kannst Du das konkretisieren?

Ich finde, es gab in der Vergangenheit auch bei uns Doppelstandards in der Außenpolitik. Diese müssen wir überwinden. Wenn wir über das Völkerrecht sprechen, über Menschenrechte, müssen wir konsistent sein. Die Weltlage hat sich verändert und als internationalistische, sozialistische Partei müssen wir Antworten auf die globalen Krisen geben, die vor allem die Interessen der arbeitenden Klasse im Blick haben und sich nicht in alten Blocklogiken erschöpfen. Imperialismus hat sich verändert, es gibt neue Akteure auf der Weltbühne, die zweite Amtszeit von Trump stellt viele neue Fragen.

Du bist erst seit März im Parlament, davor warst Du Aktivistin und Krankenschwester. Wie nimmst Du Deine Rolle nach einem Jahr wahr? Kann man als Linke im Parlament etwas verändern? Was würdest Du in Deiner Amtszeit gerne bewirken?

Ich finde, das ist eine schwierige Frage. Ich habe gefühlt zu wenig Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken und zu reflektieren: Was läuft gerade gut, was müssen wir verändern, was ist gerade wichtig. Es ist ein Problem, dass dieser parlamentarische Betrieb so eng getaktet ist, man zugeballert wird mit Informationen und Anfragen. Ich versuche, mich da abzugrenzen, aber ich merke, dass ich mich mit diesen parlamentarischen Abläufen an vielen Stellen schwertue, weil die so technisch sind und völlig entkoppelt von Realitäten, die man außerhalb des Parlamentes erlebt. Das ist ein Lernprozess und ich stehe hier noch am Anfang. Es ist sinnvoll, dass Die Linke im Parlament ist. Die Zugänge und Ressourcen können und müssen strategisch genutzt werden, um gesellschaftliche Debatten zu verschieben oder neue Impulse zu setzen.

Mein Ziel ist es, eng verzahnt mit Zivilgesellschaft und Bewegung zu arbeiten. Wenn ich zum Beispiel eine Rede zu Afghanistan halte, dann spreche ich vorab mit Kolleginnen der Kabul Luftbrücke und frage, was für sie gerade besonders relevant ist. Gleichzeitig bin ich immer fester davon überzeugt, dass wir dringend über Mandatszeitbegrenzung sprechen müssen, denn das Parlament macht einen auch ein bisschen dumm. Man muss sich sehr dazu zwingen, hier nicht aus dem Fokus zu verlieren, warum man eigentlich hier ist und was man hier eigentlich möchte. Ich möchte daran mitarbeiten, dass unsere außenpolitischen Positionen konsistent und selbstbewusst vertreten werden. Die Linke muss eine glaubwürdige Alternative zu Militarisierung, Aufrüstung und Abschottung anbieten.

Lea Reisner ist Mitglied des Bundestags und Sprecherin für Internationale Beziehungen in der Linksfraktion.