31. Oktober 2023
Robert Habecks neue Industriestrategie geht mitunter in die richtige Richtung, doch sie birgt auch einige Probleme. Das größte: Sie ist nur ein Debattenbeitrag, nicht der handfeste Plan, den es bräuchte. Und einen solchen wird es mit der Ampel nicht geben.
Wirtschaftsminister Robert Habeck testet einen Umwelt-Simulator auf der Gamescom in Köln.
IMAGO / Sven SimonPünktlich zum Gewerkschaftstag der IG Metall stellte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck seine Industriestrategie vor. Unter dem Titel »Industriepolitik in der Zeitenwende« schließt er thematisch an seinen Kanzlerkollegen Olaf Scholz an und macht dabei deutlich, welch große Bedeutung er den Herausforderungen in der Industrie beimisst.
Die alte Strategie, sich in der Energie auf Russland, als Absatzmarkt auf China und in der Verteidigung auf die USA zu verlassen, hat demnach ausgedient. Habeck will Antworten auf die aktuellen Herausforderungen geben. Er bestärkt und unterfüttert in erster Linie seine Forderungen, den Industriestrompreis zu subventionieren und die Schuldenbremse zu lockern, und interveniert damit in die laufenden Haushaltsverhandlungen. Es brauche mehr grüne Investitionen, weniger Bürokratie und eine Bekämpfung des Fachkräftemangels.
Ein Fortschritt ist die Industriestrategie insofern, als Habeck feststellt, dass Industrieförderung kein Wert an sich sei, zumal die Unternehmen ja »oft jahrzehntelang hohe Gewinne eingefahren« hätten. Industriepolitik müsse gesellschaftlichen Zielen wie guter Arbeit, Wohlstandsteilhabe, Klimaschutz und Krisen-Resilienz verpflichtet sein. Hilfen für Unternehmen soll es folglich nur im Gegenzug für klare Zusagen zu Standort- und Beschäftigungssicherung, Tarifbezahlung und Mitbestimmung sowie klar formulierte Transformationsverpflichtungen geben. Dass man solche Bedingungen stellt, bevor man öffentliche Fördergelder vergibt, ist aus sozial-ökologischer Sicht dringend geboten. Jedes industriepolitische Instrument muss auf seine transformative Lenkungswirkung hin überprüft werden.
Als angebotsorientierte Standortverbesserung zielt die Strategie vor allem auch darauf, die Planung zu beschleunigen und Bürokratie abzubauen. Natürlich ist es Unsinn, wenn Logistikunternehmen über hundert Einzelgenehmigungen brauchen, um eine Windkraftanlage quer durch Deutschland zu transportieren. Und natürlich braucht es »Tesla-Speed« in der Energiewende. Gefährlich wird es jedoch, wenn sich neoliberale Hardliner mit ihrer »One-in-two-out«-Regel durchsetzen, wonach pauschal zwei sachfremde Gesetze abgeschafft werden sollen, wann immer an anderer Stelle eins eingeführt wird. Aus der CDU war zuletzt sogar zu hören, man solle das öffentliche Personal allgemein abbauen.
Habeck möchte mit seiner Industriestrategie auch den Fachkräftemangel beheben – einerseits durch mehr gezielte Zuwanderung und andererseits dadurch, dass der Staat freiwillige Arbeit über das Renteneintrittsalter hinaus durch eine Befreiung von Abgaben belohnt. Freiwillig länger zu arbeiten, kommt jedoch eher für Bürojobs und Angestellte infrage und weniger für die dringend benötigten Handwerkerinnen und Facharbeiter. Damit würde dieser Vorschlag die Ungleichheit im Alter zwischen körperlich und nicht-körperlich Arbeitenden erhöhen und zudem durch die Mindereinnahmen die Sozialsysteme belasten.
»Es braucht eine große Ausbildungsoffensive und eine Stärkung der überbetrieblichen beruflichen Bildung. Dass die Bundesregierung stattdessen gerade hier kürzen will, ist absolut unverständlich.«
Auch die Idee, verstärkt ausländische Fachkräfte anzuwerben, während man gleichzeitig schnellere Abschiebungen forciert, wirft die Frage auf, warum man den Fachkräftemangel nicht vielmehr dadurch bekämpft, dass man die berufliche Ausbildung stärkt. Warum anderswo ausgebildete Menschen anwerben, wenn wir auch einfach die ausbilden können, die schon da sind? Es braucht eine große Ausbildungsoffensive und eine Stärkung der überbetrieblichen beruflichen Bildung. Dass die Bundesregierung stattdessen gerade hier das zweite Mal in Folge den Haushalt kürzen will, ist angesichts der Bedeutung der Fachkräfte für die Wärme- und Energiewende sowie die Industrietransformation absolut unverständlich.
Heraus sticht auch die Forderung, CCS- und CCU-Technologien einzusetzen, also Kohlenstoff im Boden einzulagern oder in der Produktion zu nutzen, um die Klimabilanz zu verbessern. Auch wenn die Gefahren solcher Technologien für Mensch und Umwelt perspektivisch beherrschbar sind und es sinnvoll erscheinen mag, hier weiterzuforschen – insbesondere, was unvermeidbare Restemissionen angeht –, ist es höchst gefährlich, diesen Weg jetzt politisch zu forcieren. Diese unausgereifte Technologie wird in naher Zukunft noch wenig bis gar nichts dazu beitragen, die Klimaziele zu erreichen, und es besteht die Gefahr, dass verfrühte Hoffnung auf solche Lösungen handfeste Maßnahmen zur Klimagasreduktion verzögert.
Der noch nicht mit den Ampel-Partnern abgestimmte Vorschlag des Wirtschaftsministeriums kombiniert horizontale angebotsorientierte Industriepolitik und vertikale Instrumente, wie die konkrete Förderung von Mikrochipproduktion sowie »Transformationstechnologien« (Photovoltaik, Wind, Batterien und Wasserstoff). Habeck präsentiert damit unter dem Schlagwort »transformative Angebotspolitik« den Versuch einer Synthese aus neoklassisch begründeten Ansätzen zur Verbesserung der Standortbedingungen und stärker intervenierender Instrumente, die nach der Ökonomin Mariana Mazzucato als »missionsorientiert« bezeichnet werden. So kann die Wirtschaftspolitik etwa die Mission verfolgen, die Industrie im Sinne der Beschäftigten und des Klimas umzubauen.
Es stellt sich die Frage, ob wirklich eine Deindustrialisierung in Deutschland droht oder ob sie nur ein Gespenst ist, das von Industriellen, Rechten und transformationsfeindlich eingestellten Gewerkschaftern heraufbeschworen wird, um bestenfalls ein paar unnötige Profitsubventionen zu mobilisieren oder schlimmstenfalls Ängste in der Bevölkerung zu schüren. Schaut man sich die Auftragseingänge des produzierenden Gewerbes an, muss man zu dem Schluss kommen, dass kurzfristig noch keine Deindustrialisierung ansteht. Diese stiegen nämlich zuletzt im August wieder um 3,9 Prozent an. Die Auftragsbücher sind noch üppig gefüllt, Kurzarbeit scheint in weiter Ferne.
Betrachtet man jedoch die tatsächliche Produktion, ist speziell in der energieintensiven Industrie seit Beginn der Energiepreiskrise im Februar 2022 ein Einbruch von 20 Prozent zu verzeichnen. Eine besonders steile Talfahrt legte hierbei die Chemieindustrie hin, die zwischenzeitlich an der 70-Prozent-Marke im Vergleich zum Vorkrisenniveau kratzte. Konjunkturell ist daher die Gefahr einer mittelfristigen Deindustrialisierung durchaus zu erkennen.
Nun sind konjunkturelle Faktoren nicht von strukturellen Faktoren zu trennen, auch wenn das in der neoklassischen Ökonomiezunft fälschlicherweise behauptet wird. Von daher steht durchaus zu befürchten, dass sich aktuelle Produktionseinbrüche verstetigen und Produktionseinheiten stillgelegt oder verlagert werden, was langfristig einer Deindustrialisierung gleichkäme. Die strukturellen Probleme der Industrie sind zahlreich und es ist viel zu lange nichts passiert, um sie zu beheben. Für Investitionsentscheidungen in der Schwer- und Grundstoffindustrie, wo die Investitionszyklen lang sind, ist Planbarkeit entscheidend. Stillstand und politische Unentschlossenheit sind Gift für die energieintensive Industrie und ihre 2,4 Millionen Beschäftigten in Deutschland.
Habecks Industriestrategie liefert gute Argumente dafür, dass auch ein Brückenstrompreis die Industrie in Deutschland erhalten könnte. Erstmals kann das Wirtschaftsministerium aufzeigen, dass der Industriestrompreis in Deutschland tatsächlich einen deutlichen Wettbewerbsnachteil gegenüber China und den USA bedeutet. Nicht nur ist der Erhalt der Grundstoffindustrie am Anfang der Wertschöpfungskette wichtig, um die Beschäftigung im gesamten Industrienetz zu sichern, sondern wir brauchen auch und gerade für die Energie- und Verkehrswende energieintensive Produkte und Produktion. Der Thinktank Dezernat Zukunft fordert daher eine »Sockelkapazität für die Grundstoffindustrie«. Dazu kommt, dass die hiesige Produktion auch das Klima schont. Bei Kupfer beispielsweise würde eine Verlagerung der Produktion die Emissionen verdoppeln.
Einen preisstabilen Industriestrom braucht es aber vor allem auch zu dem Zweck, die mit fossilen Brennstoffen betriebene Stahl- und Chemieproduktion zu elektrifizieren. Anstelle von Kohle und Erdgas müssen erneuerbarer Strom und grüner Wasserstoff zum Einsatz kommen. Erst wenn dieser Strom planungssicher und preisstabil langfristig zur Verfügung steht, kann die Dekarbonisierung der Industrie gelingen. Und wenn auf diesem Weg nicht ein Großteil der Industrie auf der Strecke bleiben soll, muss der Strompreis zeitweise gefördert werden.
»Die Klimakrise und wachsende Zukunftssorgen, steigende Ungleichheit und die Angst vor der Abwertung persönlicher Lebensleistungen und ganzer (Industrie-)Regionen lassen uns keine Zeit für immer weitere Diskurse.«
Ein »atmender Industriestrompreis« könnte dabei sogar Anreize setzen, die Produktion flexibel auf den Verbrauch von erneuerbarer Energie anzupassen und somit ökologische Lenkungswirkung entfalten. Indem er die Unternehmen preissensibel an den Kosten für den Industriestrompreis beteiligt, könnte er zugleich die Kosten für den Staat minimieren. Die Unternehmen bekämen auf diese Weise Preisstabilität statt Profitförderung.
Klar ist, dass ein geförderter Industriestrompreis aus dem Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) finanziert werden sollte und nicht über eine Umlage von Privatpersonen oder Kleinen und Mittelständischen Unternehmen. Dass eine Finanzierung über den WSF rechtlich möglich ist, zeigt nicht nur ein Gutachten im Auftrag der Stiftung Arbeit und Umwelt der IG BCE, sondern auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags. Offen ist nach wie vor die Frage des Begünstigtenkreises. Während die beihilferechtlichen Vorteile bestehender Listen einleuchten, wäre aus progressiver Sicht eigentlich geboten, diese nach Energie- und internationaler Wettbewerbsintensivität zu überarbeiten. Eine Wiederholung der ETS-Industrieprivilegien, die zu horrender Profitförderung und Steuergeldverschwendung geführt haben, gilt es zu vermeiden.
Bislang macht es nicht den Eindruck, als würde Habecks Industriestrategie zu einem ähnlichen Rohrkrepierer werden wie die des CDU-Wirtschaftsministers Peter Altmaier im Jahr 2019. Habecks Vorgänger wurde seinerzeit noch dafür gescholten, dass er es wagte, einen stärker engagierten Staat in der Wirtschaftspolitik zu fordern. Nur der damalige Wirtschaftsweise Prof. Peter Bofinger sprang Altmaier mit einem Sondervotum bei. Zugutehalten muss man Altmaier, dass er tatsächlich einen Debattenaufschlag geliefert hat, wenngleich auch die Leerstellen seiner – Gerüchten zufolge von ihm persönlich auf der Couch verfassten – Industriestrategie gerade beim ökologischen Umbau eklatant waren.
Die industriepolitische Debatte hat seitdem stark zugenommen, fast niemand mehr bestreitet heutzutage die Notwendigkeit strategischer Industriepolitik. Habeck bekommt auf Veranstaltungen regelmäßig größeren Applaus von Industrieverbänden und Gewerkschaften als es seine FDP- beziehungsweise SPD-Kollegen und sein vorgelegtes Papier hat mehr Substanz als vorherige Ansätze.
Bitter ist jedoch, dass Habeck seine Strategie wieder nur als »Einladung zum Diskurs« verstanden wissen will und der Vorschlag nicht die Position der Bundesregierung darstellt. Selbst die behäbige EU war in der Lage, mit dem Green Deal Industrial Plan und dem Critical Raw Materials Act ambitionierte Industriepolitik mit Klimaschutz- und Investitionszielen in strategischen Sektoren zu formulieren. Die Bundesregierung hingegen bleibt ihren Beitrag zu einer europäischen Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA und die »Made in China«-Strategie Pekings nach wie vor schuldig.
Die Klimakrise und wachsende Zukunftssorgen, steigende Ungleichheit und die Angst vor der Abwertung persönlicher Lebensleistungen und ganzer (Industrie-)Regionen lassen uns keine Zeit für immer weitere Diskurse. Jetzt braucht es einen Plan – und eine Regierung, die ihn glaubhaft umsetzt. Dass das mit der Ampel nichts mehr wird, spürt Habeck vermutlich selbst. Das Papier weist an mehreren Stellen über die aktuelle Legislatur hinaus. Es wird Zeit für neue progressive Allianzen. Ohne die FDP, dafür mit Gewerkschaften und der Klimabewegung. Und auch den Unternehmen reicht Habeck mit dem Papier die Hand. Hoffentlich nehmen sie nicht gleich den ganzen Arm.
Tilman von Berlepsch ist Referent für Wirtschaftspolitik der Linksfraktion im Deutschen Bundestag.