16. Februar 2023
Die Desillusionierung nach 1990 hat in Russland zu einer Ablehnung des westlichen Liberalismus geführt. Die Ideologie, die aus dieser Enttäuschung hervorgeht, ist jedoch mit einer sozialistischen Kritik des Liberalismus unvereinbar.
Der russische Philosoph Konstantin Leontjew entwickelte die Theorie zivilisatorischer Lebenszyklen.
Public DomainSofern es nicht zum Klimakollaps kommt, können wir davon ausgehen, dass die Menschheit wahrscheinlich noch viele Tausende, Hunderttausende oder sogar Millionen von Jahre existieren wird. Wie die Gesellschaften der fernen Zukunft aussehen werden, lässt sich nur mutmaßen. Aber es ist kaum vorstellbar, dass sie den heutigen besonders ähneln werden. Man muss keine eingefleischte Marxistin sein, um einzusehen, dass sich mit dem Wandel der ökonomischen Systeme auch die sozialen Strukturen, Werte und Institutionen verändern werden. Und da wir unmöglich wissen können, wie die Wirtschaft in tausend, zehntausend oder hunderttausend Jahren funktionieren wird, können wir auch nicht sagen, wie sich die sozialen und politischen Werte und Institutionen entwickeln werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Vorstellung, dass die liberale Demokratie westlicher Prägung das »Ende der Geschichte« darstellt, wie Francis Fukuyama es berühmt-berüchtigter Weise formulierte, mehr als nur ein bisschen arrogant. Es ist absurd zu glauben, dass wir heute im Westen die Frage nach der optimalen Form gesellschaftlicher Organisation für alle Zeiten gelöst hätten.
Manche argumentieren trotzdem, dass die liberale Demokratie immer noch besser sei als ihre Alternative. Im Zuge der Turbulenzen der Finanzkrise und der stümperhaften Reaktionen der Regierungen auf die Pandemie ist der liberale Triumphalismus jedoch ins Wanken geraten. In der Folge sehen sich die Liberalen nun mit unerwarteten ideologischen Herausforderungen konfrontiert, insbesondere vonseiten der populistischen Rechten. In einem Anflug von Panik verkündet heute ein Intellektueller nach dem anderen, dass die Demokratie bedroht sei und der Faschismus vor der Tür stehe.
Man kann darüber streiten, ob die populistische Rechte wirklich faschistisch ist. Ein Großteil der Kritik am Liberalismus stellt keine Ablehnung der liberalen Ideale dar. Vielmehr wird bemängelt, dass Gesellschaften, die sich selbst als liberal bezeichnen, diesen Idealen nicht gerecht werden. Rechte Populistinnen und Populisten kleiden ihre Bemühungen, die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben, häufig in eine demokratische Rhetorik. Sie behaupten etwa, dass ein Aktivismus der Judikative dazu geführt habe, dass nun eine kleine Elite die Gerichte kontrolliere und gegen den Willen der Mehrheit ihre eigenen Normen durchsetze. Kontrolle über die Gerichte auszuüben bedeute, »durch die Förderung des Volkswillens die demokratischen Gewalten neu zu gewichten«.
Eine ähnliche Dynamik können wir auch auf internationaler Ebene beobachten. Die Länder, die mit dem Westen rivalisieren – insbesondere Russland – argumentieren, dass nicht sie es seien, die die liberale internationale Ordnung untergraben. Vielmehr sei es der Westen selbst, der dies tue. Indem man sich dieser Selbstzerstörung widersetze, bewahre man in Wahrheit die liberale Ordnung. So beklagte der russische Außenminister Sergej Lawrow 2019 in einem Artikel, westliche Wirtschaftssanktionen würden gegen liberale Prinzipien verstoßen. Der Westen habe »das Konzept einer ›regelbasierten Ordnung‹ entwickelt […], um die international vereinbarten Rechtsinstrumente zu untergraben«. Lawrow zufolge verteidigt also Russland die internationale Ordnung, während der Westen daran arbeite, diese zu revidieren.
Russland fordert den westlichen Liberalismus aber noch in einer anderen Weise ideologisch heraus, und zwar im Namen dessen, was man als »Theorie der Zivilisationen« bezeichnen kann. Im Gegensatz zu Fukuyamas Konzept des Endes der Geschichte, demzufolge die ganze Welt auf eine einzige gemeinsame Zukunft zusteuert, behauptet diese Theorie, dass sich die verschiedenen Gesellschaften gemäß ihrer eigenen Logiken entwickeln und jede auf ihrem eigenen Weg in ihre eigene Zukunft geht.
Die Behauptung der moralischen und institutionellen Überlegenheit des Westens, verbunden mit der Forderung, dass andere Länder ihre Systeme an dieses Modell anpassen sollten, ist angesichts wachsender Ungleichheit und sinkender Lebensstandards insbesondere in den USA und Großbritannien immer schwerer aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt, dass sich die »Werte«, auf die sich die enthusiastischsten Verfechter des Westens berufen, immerzu verschieben und sicherlich nicht mehr dieselben sind wie vor zwanzig oder dreißig, geschweige denn vor hundert Jahren. Wenn der westliche Liberalismus das »Ende der Geschichte« darstellt, dann handelt es sich um ein sich ständig bewegendes Ziel.
Es überrascht kaum, dass all das zu einer antiliberalen Reaktion geführt hat. In der Folge ist die Geschichte in den letzten Jahren wieder auf den Plan getreten. Kritische Stimmen beklagen, dass das, was wir als »Demokratie« bezeichnen, in Wirklichkeit gar nicht demokratisch sei – dass seit langem bestehende soziale Systeme durch neue Technologien, Einwanderung und andere Veränderungen umgeworfen würden, oft zu einem hohen Preis für viele Menschen. Auch würden die Gesellschaften immer ungleicher. Kurz gesagt: Demokratie und Kapitalismus seien nicht das, was sie zu sein scheinen.
Neben China ist Russland die größte Quelle des Widerstands gegen westliche liberale Normen. Der Begründer der Theorie der Zivilisationen war der russische Biologe Nikolai Danilewski. Einst weitgehend ignoriert, hat Danilewski seit den späten 1990er Jahren enorm an Popularität gewonnen. Gezeichnet von jener Zeit, in der Russland ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen Niedergangs, der sinkenden Lebenserwartung, der steigenden Kriminalität und der politischen Instabilität erlebte, stellten viele Russinnen und Russen fest, dass der »real existierende Liberalismus« überhaupt nicht das war, was er der liberalen Theorie nach sein sollte. Die Enttäuschung über die Außenpolitik des Westens verstärkte den Wunsch nach einer alternativen Weltanschauung. Danilewskis Theorie füllte diese Lücke perfekt aus, indem sie eine philosophische Begründung dafür lieferte, warum Russland den Pfad des Westens verlassen und einen eigenen Weg beschreiten sollte.
Die zivilisationistische Herausforderung des Liberalismus unterscheidet sich von der populistischen, auch wenn viele Kommentatorinnen und Kommentatoren beide gern durcheinanderbringen. Der Populismus zielt darauf ab, die bestehenden Systeme zu überwinden, weil sie sich als untauglich erwiesen haben. Die Zivilisationstheorie hingegen steht den verschiedenen Systemen prinzipiell gleichgültig gegenüber – ihre Grundannahme ist, dass jede Kultur ihrem eigenen Weg folgen sollte. Man kann westliche Populistinnen und russische Zivilisationisten für Verbündete im Kampf gegen einen gemeinsamen Feind halten – die Eliten, die ihnen zufolge die westlichen Gesellschaften steuern –, doch letztlich geht es ihnen nicht um dasselbe. Die Populisten befassen sich mit inneren Feinden, die Zivilisationistinnen in erster Linie mit äußeren.
In dieser Hinsicht stellt die Zivilisationstheorie eine geringere Bedrohung für den westlichen Liberalismus dar als sein einheimischer Populismus, da erstere nicht hinterfragt, wie wir uns im Westen selbst regieren. Sie kritisiert lediglich, dass wir unsere Systeme exportieren oder anderen aufzwingen.
Es stimmt, dass das Denken in Zivilisationen Gefahren birgt. Die Theorie des demokratischen Friedens geht davon aus, dass der Weltfrieden durch die Ausbreitung der liberalen Demokratie entstehen wird. Eine Welt aus verschiedenen Zivilisationen, die alle ihre eigenen Wege gehen, ist mit dieser Vorstellung unvereinbar.
Die zivilisatorische Theorie ist jedoch nicht zwangsläufig konfrontativ. Viele ihrer Anhängerinnen und Anhänger plädieren für einen »Dialog der Zivilisationen« und behaupten, dass eine friedliche Weltordnung nur durch die gegenseitige Anerkennung der zivilisatorischen Unterschiede möglich sei. Andere wiederum vertreten eine isolationistische Position und behaupten, dass »zivilisatorische Gleichgültigkeit« notwendig sei, wie es der russische Philosoph Boris Mschujew nennt. Wenn wir uns nur darauf einigen könnten, dass wir uns uneinig sind, und aufhörten, uns darüber Gedanken zu machen, was die jeweils anderen tun, dann könnten wir endlich miteinander auskommen.
Diejenigen, denen der Niedergang des Westens große Sorgen bereitet, stiftet die Zivilisationstheorie eine gewisse Hoffnung, wenn auch auf etwas perverse Art. In Anlehnung an Danilewski entwickelte sein Beinahe-Zeitgenosse Konstantin Leontjew eine Theorie der zivilisatorischen Lebenszyklen, der zufolge alle Zivilisationen drei Stadien durchlaufen: primäre Simplizität, blühende Komplexität und schließlich sekundäre Simplizität. Leontjew war ein Ästhet, der großen Wert auf Vielfalt jeglicher Art legte – daher die Betonung der »blühenden Komplexität«. Homogenität empfand er als ästhetisch unangenehm. Folglich war er ein entschiedener Antiliberaler, weil seiner Auffassung nach das Gleichheitsbekenntnis des Liberalismus alle sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterschiede auslöschen und eine einheitliche Gesellschaft hervorbringen würde. Dies entspräche dem Stadium der sekundären Simplizität und markiere das Ende des zivilisatorischen Fortschritts.
An der modernen westlichen Gesellschaft hätte Leontjew wahrscheinlich viel verachtet. Aber die postmoderne Wende der westlichen Kultur mit ihrer immer stärkeren Betonung der Diversität wäre wahrscheinlich auf sein Wohlwollen gestoßen. Dass ethnisch und religiös homogene Gesellschaften durch multiethnische und religiös vielfältige Gesellschaften abgelöst werden, die wirtschaftliche Ungleichheit zunimmt und die Demokratie zugunsten der Herrschaft einer technokratischen Elite zurückgedrängt wird – all dies deutet im Sinne Leontjews auf die Rückkehr zu einer komplexen, geschichteten und geteilten Gesellschaft hin. Es sind Kennzeichen einer blühenden Komplexität, also einer jungen und prosperierenden Zivilisation.
Diese Zivilisation ist natürlich nicht mehr der Westen des 20. Jahrhunderts, und obwohl sie sich weiterhin als liberal bezeichnet, ist ihr Liberalismus sicherlich auch nicht mehr das, was er einmal war. Dies ist vielmehr eine neue Zivilisation, die auf den Ruinen der alten errichtet wurde. Und genau aus diesem Grund stößt ihre Ankunft auf so heftigen Widerstand.
Leontjews Vorstellung zivilisatorischer Gesundheit, bei der demokratische Prinzipien kaum beachtet werden, dürfte für linke Kritikerinnen des Liberalismus nicht attraktiv sein. Zivilisationstheoretiker neigen zu sozialem Konservatismus und klagen den Westen heute meist im Namen der Verteidigung »traditioneller« Werte und Institutionen an. Zwar könnte die zunehmende Popularität der Zivilisationstheorie dazu beitragen, die Hegemonie des liberalen Internationalismus zu brechen. Das Ergebnis könnte aus Perspektive von Sozialdemokratinnen und Sozialisten jedoch noch schlimmer ausfallen.
Dies gilt sowohl für die internationale als auch für die nationale Ordnung. Viele Fans der Zivilisationstheorie wollen die Globalisierung durch eine Regionalisierung ersetzen. Den Kapitalismus bedroht dieses Denken jedoch nicht, da es im Grunde lediglich darum geht, das liberale Modell globalisierter, offener Märkte zurückzudrängen.
In wirtschaftlicher Hinsicht ähnelt dies gewissermaßen dem Konzept der »Autarkie der Großräume«, das der Ökonom Friedrich List im frühen 19. Jahrhundert entwickelte. Solche Großräume würden aller Wahrscheinlichkeit nach von einer einzigen Macht dominiert. Auf diese Weise würde die globale Hegemonie einer Region (des Westens) durch regionale Hegemonien einzelner Nationen ersetzt. Warum dies für irgendjemanden außer diesen einzelnen Nationen eine Verbesserung darstellen sollte, ist nicht ersichtlich.
Spätestens seit Anfang des 19. Jahrhunderts wird ein bevorstehender »Untergang des Westens« vorausgesagt. Er hat lange auf sich warten lassen, aber vielleicht ist er jetzt tatsächlich gekommen. Doch wie Leontjew betonte, verschwindet eine sterbende Zivilisation niemals vollends, sondern hinterlässt einige Wurzeln, aus denen eine neue Zivilisation erwachsen kann. Er betrachtete das Russland seiner Zeit als eine solche alte Zivilisation, die sich im Stadium der sekundären Simplizität befand, und forderte seine Landsleute auf, den Aufbau einer neuen zu beschleunigen. Und vielleicht ist es genau das, was heute im Globalen Norden geschieht. Die westliche Zivilisation liegt im Sterben, aber ein neuer Westen ist im Entstehen begriffen. Wohin er sich entwickeln wird, kann niemand wissen, aber eines scheint sicher – die Geschichte ist mit einem Knall zurück.