17. September 2021
Olaf Scholz stehen nahezu alle Koalitionsoptionen offen. Wenn er kann, wird er Rot-Grün-Rot ausschlagen. Das mag strategisch klug erscheinen, ist aber eine politische Bankrotterklärung.
Olaf Scholz könnte eine kommende Regierung anführen. Doch mit wem?
Über mangelnde Gelegenheiten für politische Comebacks kann sich Olaf Scholz wahrlich nicht beklagen. Nachdem er zu Zeiten der Agenda 2010 nach nur zwei Jahren als SPD-Generalsekretär und unbeliebter, technokratischer »Scholzomat« zurücktrat und durch Klaus-Uwe Benneter abgelöst wurde, kehrte er 2007 in die Bundespolitik zurück, als Franz Müntefering das Amt des Bundesarbeits- und Sozialministers aufgabt, um sich um seine todkranke Frau zu kümmern. Nur zwei Jahre später bildete Angela Merkel nach der Bundestagswahl 2009 eine Regierung ohne SPD – und Scholz war wieder draußen.
Seine nächste Gelegenheit bot sich ihm in Hamburg, wo er den Vorsitz des dortigen SPD-Landesverbands übernahm. Als die schwarz-grüne Koalition unter Ole von Beusts glücklosem Nachfolger Christoph Ahlhaus platze, gelang Scholz der Sprung ins Amt des Ersten Bürgermeisters.
Scholz’ erneute Rückkehr in die Bundespolitik erfolgte schließlich im Jahr 2018, als die SPD-Basis trotz der »No Groko«-Kampagne unerwartet deutlich für eine nochmalige Beteiligung an Merkels Regierung votierte. Scholz wurde Finanzminister – und von Parteilinken und Jusos dafür kritisiert, die Finanzpolitik seines Vorgängers Wolfgang Schäuble weitestgehend fortzusetzen. Zwar verloren Scholz und seine Ko-Kandidatin Klara Geywitz bei der Wahl um den SPD-Parteivorsitz im Jahr 2019 gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Doch schon 2020 erlebte Scholz ein weiteres Revival, als ihn diejenigen, die ihn 2019 noch besiegt hatten, zum Kanzlerkandidaten kürten. Sein bisher wohl überraschendstes Comeback gelang ihm nun in der Spätphase des Bundestagswahlkampfes 2021 – weniger aus eigener Kraft und vielmehr dank der zahlreichen Pleiten, Pech und Pannen seiner Mitbewerber Annalena Baerbock und Armin Laschet.
Damit sind nun auch vormals verloren gegebene Koalitionsoptionen wieder denkbar. Der SPD dürften nach der Wahl alle Möglichkeiten offenstehen – Ampel, Deutschland oder Rot-Grün-Rot. Doch wenn es nach Scholz geht, bleibt letztere Koalition weiterhin unwahrscheinlich.
Scholz ist seit den 1990er Jahren ein Parteirechter, der sich von seiner Vergangenheit als Mitglied des sogenannten Stamokap-Flügels bei den Jusos weit entfernt hat. Doch nicht nur Scholz, auch die SPD-Rechten haben in den Jahren von Merkels Kanzlerschaft einen Wandel durchgemacht.
Bis nach der Bundestagswahl 2009 hatte die SPD-Rechte die Partei fest im Griff. Ihr Hauptgegner in dieser Zeit war nicht die Union, sondern DIE LINKE, deren Etablierung verhindert werden sollte. Dennoch lobte sich die Parteiführung zugleich für die Agenda 2010, ohne die es zu diesem Zeitpunkt womöglich nicht zur Gründung der Linkspartei gekommen wäre. Steinmeier, Steinbrück und Platzeck hielten ihre Politik der sozialen Kürzungen und Entrechtungen für geradezu herausragend.
»Umsetzbar wäre das jetzige SPD-Programm nur in einer rot-grün-roten Koalition. Diese Tatsache aber scheuen die Sozialdemokraten wie der Teufel das Weihwasser.«
Mit einer Fortsetzung der Schröder-SPD wollte es trotzdem nicht so recht klappen. Auf Schröder folgten Franz Müntefering, Matthias Platzeck, Kurt Beck und wieder Franz Müntefering. Trotz mehrfacher Angebote der LINKEN verzichtete die SPD in dieser Phase sogar darauf, Angela Merkel im Bundestag zugunsten eines SPD-Kanzlers abzuwählen.
Der Ton sollte sich erst ändern, als die SPD nach der Bundestagswahl 2009 in die Opposition geriet und mit Sigmar Gabriel an der Spitze einige rhetorische und auch praktische Korrekturen der Agenda-Politik vornahm. Faktisch sprach die SPD jedoch mit gespaltener Zunge. Denn während sie zunehmend Kritik an neoliberaler Politik übte, unterstützte sie gleichzeitig Angela Merkels Kurs während der Eurokrise. Mit den Stimmen oder zumindest der Duldung der SPD wurden in den betroffenen Ländern Tarifverträge, Mindestlöhne und Kündigungsschutzregeln aufgeweicht oder abgeschafft.
2013 schickte die SPD den parteirechten Peer Steinbrück in die Wahl und hoffte, mit einem relativ fortschrittlichen Programm DIE LINKE aus dem Bundestag heraushalten zu können. Diese Strategie scheiterte kläglich: Nicht nur gelang der LINKEN der Wiedereinzug in den Bundestag, Angela Merkel fuhr als menschlicher Rettungsschirm ihr bestes Wahlergebnis mit über 40 Prozent ein. Die Möglichkeit, die damalige rot-rot-grüne Mehrheit zu nutzen, wurde in der Partei nicht einmal ernsthaft diskutiert und Sigmar Gabriel konnte in einer Urabstimmung die Teilnahme an Merkels zweiter schwarz-roter Koalition durchsetzen.
Doch die prinzipielle Ablehnung jeglicher Zusammenarbeit mit der LINKEN war beendet, denn inzwischen dämmerte auch der SPD, dass es ohne DIE LINKE keine sozialdemokratische Kanzlerschaft würde geben können. Auch innerparteilich hatte sich der Wind gedreht: Wer die Agenda 2010 verteidigte, machte sich unbeliebt und angreifbar. Als sich Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans bei der Wahl zum Parteivorsitz gegen den Medien-Favoriten Olaf Scholz durchsetzen, zeigte sich das einmal mehr.
Die strategischen Korrekturen der SPD-Rechten sollte man nicht als lediglich kosmetisch abtun. Nicht nur arbeiteten im Scholz’schen Finanzministerium bald auffällig mehr fortschrittliche Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, auch bei der Auswahl der Berater wurde fortan eine andere Linie eingeschlagen. Hatte man sich zuvor noch von Bert Rürup, der beim Maschmeyer-Konzern AWD als Chefökonom tätig war, beraten lassen, zieht man heute Kritiker der »schwarzen Null« wie Tom Krebs heran.
Diesen Geist atmen auch die Beschlüsse der SPD seit 2019 sowie auch ihr Bundestagswahlprogramm. Obgleich kein linkssozialistischer Sprung nach vorne, so ist doch eine klare Abkehr von der Agenda 2010 zu erkennen. Umsetzbar wäre das jetzige SPD-Programm nur in einer rot-grün-roten Koalition. Diese Tatsache aber scheuen die Sozialdemokraten – und genauso auch die Grünen – wie der Teufel das Weihwasser.
»Scholz ist weder bereit noch fähig, jene Konflikte mit den Arbeitgebern auszutragen, die die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des SPD-Programms zur Folge hätten.«
Dass Scholz trotz seiner Hinwendung zu einer fortschrittlicheren Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Finanzpolitik eine Ampel-Koalition am liebsten wäre, ist ein offenes Geheimnis. Denn Scholz ist weder bereit noch fähig, jene Konflikte mit den Arbeitgebern auszutragen, die die arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des SPD-Programms zur Folge hätten und deren Umsetzung nur mit der Linkspartei möglich wäre. Scholz braucht DIE LINKE im Vorfeld der Regierungsbildung aber dennoch, um Christian Lindner bei Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen genug Zugeständnisse abzuringen und die SPD-Basis zu befrieden. Eine Deutschland-Koalition mit Union und FDP wäre den Sozialdemokraten sicherlich die unbeliebteste, weil damit die Union am regierungsamtlichen Machthebel bliebe.
Ob Rot-Grün-Rot ausgeschlossen ist, wird letztlich davon abhängen, wie die verschiedenen Machtzentren der SPD nach der Wahl ihre Möglichkeiten nutzen. Die SPD-Minister sind nach der Wahl nur noch auf Abruf im Amt und werden in dieser Frage kaum ausschlaggebend sein. Es bleiben also der Parteiapparat und die Funktionäre, einschließlich der Jusos, die neue Bundestagsfraktion sowie die SPD-Ministerpräsidenten und ihre Landesverbände. Parteigrößen mit Medienzugang, vor allem die Ministerpräsidenten, könnten den Ausschluss einer Zusammenarbeit mit der Linkspartei wieder aus der Mottenkiste holen oder aber die Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung bewusst so formulieren, dass DIE LINKE nicht einwilligen kann, ohne sich politisch das Genick zu brechen. Am spannendsten wird aber sein, wie sich der Funktionärsapparat und die Parteibasis, die Jusos und andere Parteilinke verhalten werden. Denn sie sind die kritische Masse, vor der Olaf Scholz und die ihm Gleichgesinnten am meisten zu befürchten haben.
Was Scholz dennoch in die Hände spielt, ist der Umstand, dass die Beziehung zwischen SPD-Linken und der Linkspartei alles andere als innig ist. Als DIE LINKE entstand, wurde ihre Ausgrenzung vom linken Flügel der SPD lange mitgetragen – auch aufgrund der Kränkung darüber, nicht mehr die alleinige Partei der Bewegung der Arbeitenden zu sein. Dass die SPD-Linke sich erst 2018 im Zuge der Erneuerung der Großen Koalition gegen die Parteirechten auflehnte, ist rückblickend kaum nachvollziehbar.
»Wenn es so kommt, wäre die SPD ein Kanzlerwahlverein, wie ihn sich Olaf Scholz und sein Parteiflügel wahrscheinlich sehnlichst erträumen.«
Auch nach der diesjährigen Wahl könnte der SPD-Rechten ein Konflikt mit der SPD-Linken bevorstehen – nur dass es dieses Mal auch tatsächlich etwas auszufechten und zu entscheiden gibt. Kurz gesagt: 2018 war eine folgenlose Generalprobe, zum Schwur kommt es 2021.
Daraus ergeben sich gleich mehrere Dilemmata. Wenn SPD und die Bündnisgrünen ernsthaft genug mit der LINKEN sondieren, um Lindner mürbe zu machen, können sie die Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei nicht zu steil formulieren. Doch je greifbarer eine rot-grün-rote Regierung erscheint, umso schwieriger wird es, gegenüber der roten und grünen Parteibasis Zugeständnisse an die FDP zu legitimieren. Sollte es dann auf eine Ampel-Koalition hinauslaufen, könnte DIE LINKE die Glaubwürdigkeit der Grünen und der Sozialdemokraten im Bundestag untergraben, wenn sie Inhalte entsprechend der Wahlprogramme von SPD und Grünen einbringt, denen beide Parteien dann laut Koalitionsvertrag voraussichtlich nicht werden zustimmen dürfen. Letztlich könnten die Koalitionsgespräche mit der FDP auch an der Frage der Finanzierung der Corona-bedingten Kreditaufnahme oder des ökologischen Umbaus platzen.
Womöglich hofft die SPD-Rechte auch, dass der wahlpolitische Erfolg auf Bundesebene die Basis ruhig stellt und sie die Abstriche einer Ampel-Koalition hinnimmt. Denn schließlich könnte ein günstiger Bundestrend auch auf die Ebene der Länder und Kommunen abfärben und der SPD dort neue Mandate und (Ober-)Bürgermeisterposten bescheren. Wenn es so kommt, wäre die SPD ein Kanzlerwahlverein, wie ihn sich Olaf Scholz und sein Parteiflügel wahrscheinlich sehnlichst erträumen. Um das zu verhindern, müssten Scholz innerparteiliche Kritiker den Schneid aufbringen, um öffentlich und offensiv eine Minderheitsregierung zu fordern – so, wie es 2006 schon einmal die Sozialistische Jugend Österreichs getan hat. Unter den wesentlich günstigeren Bedingungen, die die SPD allem Anschein nach erwarten, wäre es ein politischer Totalbankrott, nicht mit voller Kraft für ein linkes Regierungsbündnis zu kämpfen. So oder so schlägt 2021 die Stunde der Wahrheit.
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Das Argument« <i>und »Sozialismus«.</i>
Alban Werner ist Politikwissenschaftler. Er war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei der Linkspartei aktiv. Seine Texte erschienen unter anderem in »Sozialismus« und »Das Argument«.