01. Mai 2020
Der Aufstieg des österreichischen Kanzlers Sebastian Kurz scheint märchenhaft, verdankt sich aber einzigartigem machtpolitischen Kalkül. Für die meisten Verbündeten endet eine Liaison mit dem wandlungsfähigen Konservativen böse.
Konservative Parteien haben es wahrlich nicht leicht. Allerorten wird von der Krise der Linken und der Sozialdemokratie gesprochen – aber versetzen wir uns einmal kurz in die Konservativen hinein. Für jene, die in den Nachkriegsjahren so mühsam und tatkräftig das Land aufgebaut und es für sich und die Ihrigen ganz bequem eingerichtet haben, bröckelt es an allen Ecken und Enden. »Weiter wie bisher« und »vertraut uns, wir haben es bis jetzt immer gemacht« sind in dieser ungewissen Zeit keine ansprechenden Parolen mehr. Zugleich haben die Grünen das Thema der Zeit, den Klimawandel, für sich besetzt und surfen auf einer Welle des Erfolgs. Auf der anderen Seite erhalten Rechtsextreme, egal wie unmöglich sie sich aufführen, weiterhin Zustimmung und haben das andere Thema der Zeit, die verquickte Sicherheits- und Migrations-Thematik, auf ihrer Seite. Fast könnte man Mitleid haben – denn allzu viel bleibt auf den ausgetretenen Pfaden des alten Konservatismus nicht liegen: Die Umwelt konservieren andere, und wieder andere schützen »das Volk«.
Daraus ließen sich einige Schlüsse ziehen und in eine neue Art des Konservatismus einbringen. Sebastian Kurz und die ÖVP in Österreich haben genau das getan: Sie propagieren eine sich zunehmend radikalisierende und stramm rechte Volkspartei, die sich aber nie mit dem Schmuddelkind-Status der originär extremen Rechten herumschlagen muss. Die Grünen helfen ihnen noch dabei – im festen Glauben daran, das Gegenteil zu tun.
Es war einmal eine konservative Partei, die zusammen mit einer sozialdemokratischen Partei regierte und dabei lange Zeit die Juniorpartnerin war. Mit jeder neuen Wahl verloren die beiden Parteien ein wenig oder stagnierten. Die große Wahlsiegerin war ein ums andere Mal die rechte FPÖ. Die jeweiligen Vorsitzenden der beiden Parteien kamen gut miteinander aus und machten das, was sie zu tun gewohnt waren: sie kooperierten. Die Große Koalition ist nicht sexy – aber sie ist solide und man weiß, was man an ihr hat oder nicht hat. Es begab sich, dass in genau so einer Regierung ein junger Politiker der konservativen Partei Außenminister wurde. Die Partei wollte sich seine Popularität zunutze machen, auch wenn die Führung befürchtete, dass er ihr über den Kopf wachsen könnte. Und so geschah es dann auch. In einer bemerkenswert rücksichtslosen Aktion wurde der eigene Parteichef demontiert und durch den Jüngeren ersetzt. Der Name des Jüngeren: Sebastian Kurz. Der alte Parteichef, Reinhold Mitterlehner, tritt mit kaum verhohlener Bitterkeit und Verletztheit ab und schreibt einige Monate später ein Buch namens Haltung, in dem er mit Sebastian Kurz abrechnet und interne Intrigen offenlegt. Das kratzt zu diesem Zeitpunkt aber wenig am Image des aufsteigenden konservativen Superstars. Der hat die Partei längst in »Die neue Volkspartei« umbenannt und die Farbe Schwarz durch Türkis ausgetauscht. Was im Fußball geht, das geht auch in der Politik. Fanproteste gab es wenige.
Schnell kamen die Medien auf das Narrativ des eiskalten Machtmenschen. Dazu beigetragen hat auch, dass ein rigide ausgearbeitetes Strategiepapier des Kreises um Kurz geleakt wurde. Serienreif – als wäre es House of Cards entsprungen – trug es den Namen »Projekt Ballhausplatz«. Der Ballhausplatz ist die Adresse des Bundeskanzleramts. Dieses Papier wurde geschrieben, als Kurz noch Außenminister war. Seinem Ansinnen standen also mindestens zwei Männer im Weg: erstens der eigene Parteichef und zweitens der Bundeskanzler, der damals noch Christian Kern hieß – ein Sozialdemokrat. Der erstere war schnell abserviert. Um den letzteren loszuwerden, wurden 2017 Neuwahlen ausgerufen. Diese gewannen die Konservativen überlegen – nicht zuletzt weil die Sozialdemokratie über ihren eigenen Kommunikationsberater stolperte, einen Israeli namens Tal Silberstein. In dubios geleakten Daten wurde ersichtlich, dass Silbersteins Firma nicht nur die Sozialdemokratie beriet, sondern auch Schmierseiten gegen Kurz betrieb. Das Opfernarrativ war geboren. So blieb Kurz nach gewonnener Wahl, in Ungnade gefallener Sozialdemokratie und aus dem Parlament geflogenen Grünen »leider« nichts anderes übrig, als eine Koalition mit der extrem rechten FPÖ einzugehen.
Diese als Notwendigkeit verkaufte Koalition förderte Interessantes zutage: Die beiden Parteien haben kaum Meinungsverschiedenheiten. Diese traute Einigkeit stellt aber keine Neuorientierung durch Koalitionsverhandlungen dar, sondern war von Anfang an inhärenter Bestandteil des Kurzschen Kurses. In ihm bloß einen pragmatischen Machtpolitiker zu sehen, greift zu kurz. Gerade beim Thema Asyl zeigt sich, dass sein Machtanspruch immer mit einer Radikalisierung nach rechts verbunden war. Als Integrationsstaatssekretär (seiner Regierungsrolle vor dem Außenministerium) pflegte er eine liberale Fassade à la »Integration durch Leistung« und »Jeder kann es schaffen« und schmückte sich mit jungen, erfolgreichen Menschen mit Migrationshintergrund – ja, sogar mit Menschen mit Fluchterfahrung.
Das änderte sich schlagartig, als Kurz Ambitionen auf politische Spitzenpositionen entwickelte. Vielsagend war sein zynischer Ausspruch: »Es wird nicht ohne hässliche Bilder gehen.« Dabei bezog er sich auf den »Schutz« der Außengrenzen. Das war kein einmaliger Ausrutscher, sondern wiederholte sich – nicht zuletzt in der Regierungsarbeit mit der FPÖ. Die Arbeitenden wurden aus der Sozialversicherung herausgedrängt und der 12-Stunden-Arbeitstag wurde eingeführt. Außenpolitisch hat sich Österreich den Visegrad-Staaten angenähert. Die großen Verliererinnen und Verlierer der kurzen türkis-blauen Regierungszeit waren somit arbeitende Menschen und Flüchtlinge.
Dann kam Ibiza. Und wieder hatte sich ein Koalitionspartner für die ÖVP erledigt. In seinem ersten Statement zum Ibiza-Skandal der FPÖ verwies Kurz auf den Silberstein-Skandal der SPÖ – ein Lamento, das sich durch den ganzen Wahlkampf 2019 zog. Dabei sparte Kurz auch nicht an ominösen Anspielungen, er könnte erneut Opfer dieses im Dunkeln agierenden Herrn Silberstein mit seinen abscheulichen Praktiken werden. Die »Silberstein-Methoden« waren in aller Munde, was – zurückhaltend formuliert – auf eine Unbedarftheit gegenüber dem Antisemitismus hinweist.
Weniger zurückhaltend könnte man vermuten, dass genau das die Intention war. Mit hartem Rechtskurs und zwei darnieder liegenden Parteien – FPÖ und SPÖ –, gelang Kurz bei den Neuwahlen im September 2019 erneut ein strahlender Erfolg. Kurz war es gelungen, authentisch rechte Politik zu machen, ohne den »Schmuddelkind-Habitus« der FPÖ anzunehmen – und die Wählerinnen und Wähler honorierten das. Rechnerisch konnte er sich jede Koalition aussuchen. Um seinem »Alles neu«-Narrativ zu entsprechen, blieben praktisch nur die Grünen. Diese ließen sich unter vollständiger Verkennung der Lage auf die Koalition ein. Kurz hat den Grü- nen ihren eigenen Erfolg sowohl ein- als auch ausgeredet. Um sich das zu verbildlichen, kann man etwa an eine toxische Beziehung denken: Es ist wie wenn die eine Person die andere fliegen lässt, nur um ihr bei der Landung den Boden wegzuziehen, sodass sie tief fällt und sich nie mehr sicher fühlen kann. Dieses erschütterte Selbstverständnis internalisierten auch die Grünen. Sie glaubten einerseits, dass sie alleine die Staatsverantwortung hätten, und zugleich andererseits, dass sie als 14 Prozent-Partei ohnehin nichts ausrichten könnten. Außerdem steuerten sie das Klima-Kapitel zum Koalitionsvertrag bei, das Sebastian Kurz unbedingt benötigte, um sich als auf der Höhe der Zeit zu präsentieren, und verbuchten das als einen wichtigen und hart erkämpften Sieg. Währenddessen macht Sebastian Kurz innen- und außenpolitisch einfach weiter wie bisher. Nur, dass nun auch linksliberale Zeitungen in der Regierung Kurz keine rechte Regierung mehr sehen, der man mit gerümpfter Nase begegnet, sondern ein Zukunftsmodell für ganz Europa. Endlich kann Kurz ohne rechtsextreme Schmuddelkinder genau dieselbe Politik machen. Und obendrein übernimmt jemand anderes Verantwortung für den Klimaschutz, den er sich aber nichtsdestotrotz an seine Fahne heften kann.
Während die Grünen weiter auf der Sachebene arbeiten und an das bessere Argument glauben, baut Sebastian Kurz mit seinem Team gemächlich die Gesellschaft um. Ganz praktisch mit konkreten Maßnahmen, aber vor allem in der Akzeptanz immer autoritärerer Vorstellungen. So entlockt es nicht einmal den Grünen einen Mucks, wenn die türkise Frauen- und Integrationsministerin, Susanne Raab, davon spricht, ihre Ressorts würden gut zusammenpassen, weil ja ohnehin nur migrantische Männer ein Problem mit Frauen hätten. Die Lehre aus Österreich ist einfach: Der Rechtsruck geht schneller als man glaubt. Und es ist im Endeffekt nicht die extreme Rechte, die ihm zur Macht verhilft. Die fortschreitende Zerstörung demokratischer Instanzen gelingt der Kurz-ÖVP im Bund mit den Grünen womöglich sogar leichter, da der Glanz des Neuen und Zeitgemäßen die schleichende Wende hin zum Autoritarismus überstrahlt. Österreich ist hier auf den Spuren Ungarns, Polens und der USA.