29. September 2023
Dieses Wochenende veranstalten JACOBIN und Transform! Europe die zweite »Socialism In Our Time«-Konferenz in Berlin. Die politische Lage ist düster, dafür aber der gemeinsame Austausch umso wichtiger.
Im Juni 2022 trafen sich über 500 Menschen in Berlin zur Konferenz »Socialism In Our Time«. Dieses Jahr beginnt die Konferenz am 30. September.
Knapp fünfzehn Jahre ist es her, dass die Finanzkrise die globale Wirtschaft in die tiefste Rezession seit der Weltwirtschaftskrise 1929 stürzte und damit den Mythos zerstörte, der Neoliberalismus und die Finanzmärkte würden uns mit endlosem, stabilen Wirtschaftswachstu versorgen. Millionen von Menschen wurden obdach- und arbeitslos, ganze Länder gingen bankrott und die Kluft zwischen Arm und Reich, die bereits seit Jahrzehnten am Wachsen war, wurde nochmals ausgeweitet. Zum ersten Mal seit dem Zusammenbruch des Realsozialismus warf die Finanzkrise die Frage auf, ob der Kapitalismus wirklich die beste aller möglichen Welten darstellt.
Nach einer Schockstarre, in der die Gewerkschaften und die politische Linke vor lauter Angst wie gelähmt wirkten, kam es in den Jahren nach der Krise zu einer Explosion des sozialen Protests in Ost und West, Nord und Süd. Beginnend mit den Besetzungen des Arabischen Frühlings Anfang 2011 brachten Occupy Wall Street, die Indignados und andere populäre Mobilisierungen die weit verbreitete Frustration und Verzweiflung, die durch das vorübergehende Systemversagen des Kapitalismus verursacht wurde, zum Ausdruck. Die Politik dieser Frustration war oft inkohärent oder widersprüchlich, aber sie markierte den Beginn eines neuen politischen Zyklus und das endgültige Ende der sogenannten Postpolitik, die die 1990er und 2000er Jahre prägte. In diesem Klima beschloss auch eine kleine Gruppe junger Linker in New York, eine neue linke Zeitschrift namens Jacobin zu gründen.
Im Laufe der 2010er Jahre verstummte der kakofonische Protest der Occupy-Bewegung allmählich, aber die Empörung über die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit blieb bestehen und fand bald eine neue Heimat in Form von linken Parteien– sowohl neuen als auch alten. Neue Formationen wie Podemos und Syriza legten in den Umfragen zu und gewannen sogar einige Wahlen, während in anderen Ländern Veteranen der sozialistischen Bewegung wie Jeremy Corbyn und Bernie Sanders zu neuer Prominenz aufstiegen und für eine neue Generation von Sozialistinnen und Sozialisten zu Hoffnungsträgern wurden.
Heute fühlt sich die Begeisterung des letzten Jahrzehnts manchmal wie eine ferne Erinnerung an. Unsere Seite hat es letztlich nicht geschafft, die Macht zu übernehmen, musste einige herbe Rückschläge hinnehmen und befindet sich nun in der Defensive. Dort, wo es der radikalen Linken gelang, den Staat zu besetzen, nämlich in Griechenland, erwies sie sich als unfähig, ihr Programm umzusetzen. Stattdessen führte sie im Namen der europäischen Institutionen Sparmaßnahmen durch und trug auf tragische Weise dazu bei, den Widerstandsgeist zu begraben, der sie zuvor an die Macht gebracht hatte.
»Besonders in schwierigen Zeiten ist es wichtig, zusammenzukommen, Kontakte zu knüpfen und Pläne für die Zukunft zu schmieden.«
Während dieser Zeit schien Deutschland von diesen Entwicklungen ausgenommen zu sein: Unsere eigene Linkspartei, die sich bereits kurz vor der Finanzkrise gegründet hatte, verzeichnete 2009 ihr bestes Wahlergebnis, bevor sie in ein Jahrzehnt der schleichenden Stagnation abrutschte, scheinbar unbeeindruckt von den politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, die sich direkt vor ihrer Haustür abspielten.
Doch die Geschichte holt uns schließlich ein. Heute sehen wir uns nun mit einer eigenen wirtschaftlichen Rezession konfrontiert, während die Linkspartei, die eigentlich dringend gebraucht wird, sich in einer womöglich tödlichen Krise befindet, und eine wieder erstarkende Rechten, die jeden Tag offensichtlicher mit neofaschistischer Ideologie flirtet. In ganz Europa scheint sich das oppositionelle Momentum, das vor einigen Jahren noch die Linke innehatte, nun auf die Rechten übergegangen zu sein. Rechtsextreme Parteien sind in ganz Europa an Regierungen beteiligt und haben vertreten durch Giorgia Meloni nun die Kontrolle über die drittgrößte Volkswirtschaft der EU, gestützt von den Kräften des traditionellen Konservatismus. In Deutschland scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die CDU und die AfD zu einer ähnlichen Einigung kommen.
Es bringt nichts, die Lage schönzureden: Die unmittelbaren Aussichten für den demokratischen Sozialismus sind nicht allzu gut. Aber wenn uns die letzten fünfzehn Jahre etwas gelehrt haben, dann, dass politische Veränderungen schnell und oft dann eintreten können, wenn wir es am wenigsten erwarten. Als JACOBIN vor zwölf Jahren ins Leben gerufen wurde, konnte niemand vorhersehen, dass die Zeitschrift innerhalb weniger Jahre Ausgaben in fünf Sprachen umfassen und jeden Monat Millionen von Leserinnen und Leser erreichen würde. Wir mögen jetzt in der Defensive sein, aber das hat unseren Glauben an die Möglichkeit und die Notwendigkeit einer sozialistischen Zukunft nicht erschüttert – »Sie können wohl alle Blumen abscheiden, aber sie können den Frühling nicht verhindern.«
In diesem Sinne veranstalten wir an diesem Wochenende in Berlin unsere jährliche Konferenz »Socialism In Our Time«. Besonders in schwierigen Zeiten ist es wichtig, zusammenzukommen, Kontakte zu knüpfen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Wir freuen uns darauf, mit Hunderten von Teilnehmerinnen und Teilnehmern und über sechzig Rednerinnen und Rednern aus der ganzen Welt über die Vergangenheit und Gegenwart des Sozialismus zu diskutieren, herauszufinden, was politisch funktioniert und was nicht, und uns auf die kommenden Auseinandersetzungen und Herausforderungen vorzubereiten – trotz allem. Seid dabei!
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.