14. Juli 2020
Im Sommer zu arbeiten, ist ohne Aussicht auf eine Auszeit unerträglich. Die Arbeiterbewegung machte im Frankreich der 1930er Jahre den Kampf um Urlaub zur höchsten Priorität – und erzwang von den Vorgesetzten, für die Zeit am Strand zu bezahlen.
Die Strandpromenade des Anglais in Nizza, Frankreich.
Für das bürgerliche Frankreich schien keine Sonne im Sommer 1936. Feinere Damen der Gesellschaft jammerten über proletarische Horden, die zu viel Raum ihrer beliebtesten Strände einnahmen; Restaurantbesitzer an der Côte d’Azur waren sogar besorgt, ob die Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter, die in ihren Resorts ankamen, überhaupt wussten, wie sie Messer und Gabel benutzen sollten. Im Juni hatte die sozialistische Regierung allen Beschäftigten zwei Wochen bezahlten Urlaub zugesichert, wodurch Sommerurlaub für Millionen zur Realität wurde. Nun konnten Arbeiterinnen und Arbeiter 14 Tage lang statt Fahrräder zu produzieren und Baguettes zu backen, Sandburgen bauen – und wurden dafür von ihren Chefs bezahlt.
Das Gesetz, das den Beschäftigten Urlaubszeit ermöglichte, wurde von dem jüdischen sozialistischen Premierminister Léon Blum verabschiedet, der im Mai selben Jahres gewählt worden war. Dennoch war der Wandel vor allem den starken Streiks und Protesten geschuldet, die auf seine Wahl folgten. Auf der ganzen Welt hatten Gewerkschaften lange gegen das Primat der Arbeit gegenüber dem Leben gekämpft: Der Generalstreik, der am 1. Mai 1886 in Chicago begann, forderte »acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Freizeit«. Nachdem eine legale Arbeitszeitbeschränkung durchgesetzt und das Wochenende erfunden worden war, knüpfte der Kreuzzug der Arbeit für bezahlten Urlaub an jenem für Freizeit an.
Während bezahlter Urlaub zunächst in Frankreich verwurzelt wurde, sollte er bald auch an anderen Orten erstritten werden, oftmals gemeinsam mit Rechten auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und Mutterschutz. Aber im Kampf um Urlaub ging es nicht darum, den Arbeiterinnen und Arbeitern 14 Tage Freiheit im Jahr zu gewähren, nur um dann wieder zurück zur Fabrikhalle zu trotten. Angetrieben von einer neuen Massenkultur, ging es in dem Kampf um eine Ausweitung der Freizeit auch um eine Demokratisierung der zeitgenössischen Gesellschaft. Französische Arbeiterinnen und Arbeiter gewannen nicht nur das Recht auf Urlaub, sondern bauten die Herbergen, Campingplätze und Vereine, die ihnen ermöglichten, ihre Zeit gemeinsam und besser zu verbringen.
Freie Zeit war schon immer ein politisches Schlachtfeld. Die frühe Arbeiterbewegung glich einem Bienenstock aus Vereinen und Kooperativen, durch die es den arbeitenden Menschen möglich war, ihre Ressourcen zu bündeln und so ihre Freizeit möglichst effektiv zu nutzen. Ab 1919 betrieben die sozialistischen und kommunistischen Bürgermeister in Ivry-sur-Seine, einem Pariser Vorort, einen solidarischen Fond, um Kindern proletarischer Familien einen Ausflug ans Meer zu ermöglichen. Ebenso wie Körperschaften wie der Christliche Verein Junger Menschen Möglichkeiten der Erholung im Einklang mit christlichen Werten förderten, schafften die Arbeiterparteien ihre eigenen Formen von Freizeit, Sport und Sozialaktivitäten – innerhalb der freien Zeit, die sie finden konnten.
Im Sommer 1936 war es eine Regierungsmaßnahme, Urlaubsgeld universal zu ermöglichen, was bis dahin nur einer kleinen Minderheit von Beschäftigten zugefallen war. Aber es war nicht nur Léon Blum zu verdanken, sondern tatsächlich der Volksfront, die seine sozialistische Partei mit den liberalen Radikalen und Kommunisten vereinte. In der Tat war das Programm der Volksfront vor den Wahlen im Mai 1936 zaghaft – es versprach die Rüstungsindustrie zu verstaatlichen und den Gewerkschaften größere Freiheiten einzuräumen, aber der Ruf nach »einer Reduzierung der Arbeitswoche ohne Reduzierung des Wochenlohns« war unspezifisch darüber, welche Reduzierung wann gemacht werden könnte.
Der Wahlerfolg der Volksfront am 3. Mai 1936 – sie erhielt 57 Prozent der Stimmen – inspirierte eine umfassendere Stimmung des Aufbruchs. Am 11. Mai besetzten Arbeiterinnen und Arbeiter eine Flugzeugfabrik, um die Wiedereinstellung zweier Kollegen zu fordern, die aufgrund ihres Streiks am 1. Mai gefeuert worden waren; davon angestoßen, solidarisierten sich Hafenarbeiter und entzündeten damit den Funken einer größeren Bewegung. Der Streik breitete sich auf tausende Arbeitsplätze in Frankreich aus und umfasste über zwei Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter. Die feierliche Stimmung in den besetzten Fabriken zeigte nicht nur, dass sich die Beschäftigten ermutigt fühlten, sondern auch, dass sie hohe Erwartungen für ihre Zukunft hatten.
Blum, ermutigt von der Streikwelle – aber auch achtsam, soziale Konflikte nicht zu verschleppen – bemühte sich um eine Schlichtung mit den Arbeitergebern, die auch die Aktivistinnen und Aktivisten in den wesentlichen Arbeiterparteien zufriedenstellen würde. Am 7. und 8. Juni besiegelten der sozialistische Premierminister, die Gewerkschaften und die Arbeitergeber die Matignon-Verträge, die eine detailliertere – und zweifelsfrei auch radikalere – Version der Versprechen der Volksfront darstellte. Die Vorgesetzten mussten die Begrenzung der Arbeitswoche auf 40 Stunden (ohne Lohnverlust), erweiterte Freiräume der Gewerkschaften und mindestens zwei Wochen bezahlten Urlaub für alle Arbeiterinnen und Arbeiter schlucken.
Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten durch solidarische Aktionen ihr Recht auf bezahlten Urlaub gewonnen und mit dem gleichen Geist nutzten sie nun diese Zeit. Dies war auch von früheren Debatten über die Bedeutung von Urlaub beeinflusst. Zu Zeiten von Karl Marx war ein Ausflug zum Strand, weg von dem Dreck und Rauch der Stadt, oft mit einer wiederhergestellten Gesundheit assoziiert – die Historikerin Yvonne Kapp schreibt darüber, wie besessen er von den Vorteilen der Ausflüge zum Meer war, »aus medizinischer wie auch aus Laiensicht, ein Wundermittel fast wie Alkohol«. Aber was die Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächlich während ihrer freien Zeit unternahmen, blieb bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein eine heiß umkämpfte Frage.
Wie der Historiker Gary Cross anmerkt, verurteilten viele Sozialisten den Schaden, den die Routine der Fabrik in den Köpfen der Arbeiterinnen und Arbeiter verursachte, der ihnen Energie und intellektuelle Wachsamkeit raubte und verhinderte, dass diese etwas anderes taten als passiv Vergnügen zu konsumieren. Kritik an Sport und Glücksspiel war in der Arbeiterbewegung weiterverbreitet; Kampagnen, die zu »Mäßigkeit« aufriefen, waren nicht nur Ausdruck von christlichem Moralismus, sondern ebenso der Einsicht geschuldet, dass das Familieneinkommen der Arbeiter nicht für Alkohol verbraucht werden sollte. Der Fokus linker Parteien auf politische Bildung genauso wie auf Beschäftigungen wie Blaskapellen und Wandern, sollte die Aufmerksamkeit der Arbeitenden auf erleuchtendere Betätigungen lenken.
Dennoch wollte die Linke mehr tun, als nur die politischsten Arbeitenden zu integrieren – insbesondere, weil die Parteien am rechten Rand ihre eigenen Vorstellungen von Massenfreizeit propagierten. Ab 1925 boten die italienischen faschistischen Organisationen in »After-Work« und »Balilla«, staatlich unterstütze Freizeitaktivitäten an und ab 1935 sorgte das Programm »Kraft durch Freude« in Nazi-Deutschland mit Hilfe staatlicher Mittel für Sportaktivitäten und kollektive Urlaube, die klassenübergreifend militaristische und »nationale« Werte vorantrieben. Deshalb versuchte die Volksfront ihre eigene demokratische Version dessen, was Freizeit sein könnte, zu propagieren.
Das wird besonders in den Bemühungen von Blums Untersekretariat für Sportfreizeit deutlich, das von Léo Lagrange geführt wurde. Diese von der Volksfront erschaffene Position war ursprünglich an das Gesundheitsministerium angeschlossen, wurde aber dann ins Bildungsministerium verschoben und reflektierte somit die unterschiedlichen Ziele der Freizeitpolitik. Aber die Entscheidungen von Lagrange reflektierten ebenso den Unterschied zwischen sozialistischen und faschistischen Normen. Wie er es ausdrückte, war das Anliegen der Volksfront nicht nur Entspannung, sondern die Würde der arbeitenden Menschen zu unterstützen. Zum Beispiel zielte Lagrange im Unterschied zu dem elitären Sport, der bei der Berliner Olympiade gezeigt wurde, darauf ab, »weniger Sieger hervorzubringen und 22 Spieler vor 40.000 oder 100.000 Zuschauern anzuführen, sondern die Jugend unseres Landes dazu einzuladen, regelmäßig aufs Spielfeld, den Sportplatz, ins Schwimmbad zu gehen«.
»Im Frankreich der 1930er Jahre führte der Kampf für Urlaub zu einer generellen Verbesserung aller Arbeitsbedingungen – auf Kosten der Vorgesetzten.«
Der Schlüssel war hier der Fokus auf die Fähigkeit der Freizeit, Klassenunterschiede zu überbrücken – Lagrange sponserte nicht nur die »Volksolympiade« in Barcelona, eine Alternativveranstaltung zu Hitlers Olympiade, sondern veranstalte selbst Touren für Landarbeiterinnen und -arbeiter aus anderen Regionen in Paris. Die Regierung unterstützte von Mitgliedern geführte Vereine und zielte so darauf ab, eine kollektive Gestaltung der Freizeit zu stärken, frei von der Vormundschaft die mit Kirchen oder anderen Wohltätigkeitsvereinen assoziiert war: Für Lagrange würde das dem »Minenarbeiter, dem Handwerker, dem Bauern, dem Maurer, dem Angestellten und dem Lehrer« ermöglichen, »schrittweise die Einheit menschlicher Arbeit zu verstehen«.
Dies fand bei Initiativen von unten Widerhall. Als die »Arbeit Sport und Turn Union« des Allgemeinen Gewerkschaftsbundes CGT die Forderung »für jede Fabrik ein Verein« einführte, stiegen die Mitgliederzahlen zwischen 1935 und 1938 von 42.000 auf 100.000. Genauso wie Arbeiterinnen und Arbeiter es sich nicht hätten leisten können, ohne bezahlten Urlaub zu verreisen, mussten sie auch ihre Zeit kostengünstig verbringen. Subventioniertes Bahnfahren (40 Prozent Ermäßigung) ermöglichte einen Teil dieser Politik, genauso entscheidend waren aber die lokalen Volksfront-Komitees, Organisationen wie »Urlaub für Alle« (die »mehr als eine ermäßigte Version bürgerlichen Tourismus« versprachen) und der Verbund der Jugendherbergen CLAJ.
Wie der Name sagt, war CLAJ – »das säkulare Jugendherbergswerk« – eine Alternative zu den religiösen Freizeitvereinen und stattdessen größtenteils aus kommunistischer Macht hervorgegangen. Es verstärkte seine Präsenz während der Volksfront-Ära enorm, stieg von 45 Hotels 1933 auf 450 im Jahr 1938. Indem es eine günstige Unterbringungsmöglichkeit für Zehntausende Menschen darstellte, trug es auch zu einer Liberalisierung sozialer Normen bei. Als die offizielle Politik mutlos war, hieß das Magazin der CLAJ, Le Cris des Auberges, »jede Herberge eine Republik der Jugend«, und brach damit mit dem Modell »Familienurlaub«, das von Teilen der Volksfront-Propaganda angepriesen wurde.
Wie die Historikerin Siân Reynolds schreibt, war die Rolle von CLAJ vor allem aufgrund der liberaleren sozialen Sitten wichtig, die sie propagierte, sowie durch den Umstand, dass sie in ihrer Organisation keiner Geschlechtertrennung folgte (wenn auch die Schlafsäle getrennt waren). Gemeinsame Geselligkeit von Männern und Frauen, die Verbreitung des umgangssprachlichen tu statt des formalen vous und die Abwesenheit einer Kleidervorschrift für Frauen bediente sich existierender Praktiken der kommunistischen Jugend, aber untergrub auch vergeschlechtlichte Hierarchien: Nach Lucette Heller-Goldenberg setzten diese »der verlogenen Beziehung zwischen einer jungen, nach einem Ehemann strebenden Frau und einem, nach einem Opfer suchenden jungen Mann« ein Ende.
Die Volksfront war aber nicht nur eitel Sonnenschein – sie war am Ende doch als schützendes Bollwerk gegen den aufkommenden Faschismus entstanden und einige von Lagranges Kollegen waren den patriotischen Vorteilen des kulturellen Austauschs wohlgesinnter als ihrer Leistung, Familiennormen zu untergraben. Nichtsdestotrotz hatte Blums Politik bedeutende Folgen, unter anderem das Aufkommen einer ähnlichen Praxis in Großbritannien. Obwohl ein entsprechender Versuch der Legislative in Westminister 1929 und 1936 gescheitert war, stieg der Anteil der Arbeiterinnen und Arbeiter, denen bezahlter Urlaub zugestanden wurde, aufgrund gewerkschaftlicher Forderungen, die vom französischen Beispiel inspiriert waren, von 1,5 Millionen 1935 auf 7,75 Millionen im März 1938.
Finanzieller Druck und der Bürgerkrieg in Spanien bedeuteten das Ende der Volksfront in diesem Herbst. Die liberalen Radikalen wandten sich den Konservativen zu, schwächten so Blums Schlüsselmaßnahmen, die schließlich völlig unter der deutschen Besatzung zerstört wurden. Lagrange selbst wurde im Juli 1940 getötet. Währenddessen stand Blum 1942 wegen Verrat vor Gericht. Trotzig beschützte er seinen Ruf und nutzte den Gerichtssaal, um seine Freizeitpolitik zu verteidigen und damit die Rhetorik des Vichy-Regimes zu unterwandern. Für den jüdischen Sozialisten war bezahlter Urlaub »ein Lichtblick in dunklen und schwierigen Leben«, um »ihnen nicht nur Möglichkeiten des Familienlebens zu öffnen, sondern ihnen ein Versprechen für die Zukunft zu geben – Hoffnung.«
Dieser Lichtblick würde noch lange erinnert werden. Die Zeilen von Charles Trenets Lied aus dem Jahr 1936, »Y’a d’la joie« blieb über die Jahre ein Echo, während die Fotografen Henri Cartier-Bresson und Pierre Jamet (Mitglied des CLAJ) die joie de vivre des Anhalterfahrens und einfachem Camping unsterblich machten. Das Licht des Jahres 1936 war jedoch zweifelsohne erst durch die unter dem Vichy-Regime folgende Dunkelheit erschienen. Einige Historikerinnen und Historiker haben es als trostbringenden Mythos porträtiert – für Julian Jackson »wurden die Massen, die aus abfahrenden Zügen winkten, genauso ein Symbol für 1936 wie es dir Barrikaden für 1968 waren«.
Im Sommer 1940 packten die Pariser Familien ihre Koffer für eine andere Art der Reise – die Evakuierung der Hauptstadt angesichts der deutschen Invasion. Dennoch hinterließ der Sommer vier Jahre zuvor in den dunklen Tagen der Besetzung mehr als nur glückliche Erinnerungen. Die kommunistischen und die sozialistischen Parteien waren bestanden in Folge ihrer Verbannung durch die Konservativen beziehungsweise Vichy nicht mehr. Aber die Strukturen, die die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgebaut hatten, um das Beste aus ihrer hartgewonnen Freizeit zu machen, schafften auch ein Netz aus Solidarität, das in der Zeit der Besatzung überlebte. Nach der deutschen Invasion wurde aus CLAJ ein Fels des bewaffneten Widerstands.
Heute sieht sich unsere Freizeit anderen Feinden als Nazi-Kampftrupps ausgesetzt. Vorgesetzte benutzen sowohl unsere prekären Arbeitsbedingungen als auch unsere Mobiltelefone, um uns, die an ihre Arbeit gefesselt sind und dringend neue Schichten brauchen, ständig auf Bereitschaft zu halten. Aber bezahlter Urlaub ist genau dafür da, uns aus der Wahl zwischen Freizeit und der benötigten Erwerbsarbeit zu befreien – es ist eine Verpflichtung aller Arbeitgeber, für unsere Auszeit zu bezahlen, unabhängig ihrer jeweiligen Umstände. Im Frankreich der 1930er Jahre führte der Kampf für Urlaub zu einer generellen Verbesserung aller Arbeitsbedingungen – auf Kosten der Vorgesetzten. Das ist genau das, was wir heute brauchen.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).