27. August 2020
Das Ziel des Sozialismus ist so einfach wie schön: Alle Menschen werden von Herrschaft befreit, verkümmerte Träume und Entfremdung werden ersetzt durch menschliche Entfaltung und grenzenlose Kreativität.
»Mädchen mit Lilien«, Diego Rivera, Ölgemälde, 1942
Marx hatte ein gutes Gespür für Herzlichkeit in einer herzlosen Welt. Schon in jungen Jahren besorgte ihn, wie die »Probleme der Menschen« im Kapitalismus durch den Kampf ums bloße Überleben verdrängt wurden. Er sah dem Tag entgegen, an dem unser Augenmerk auf diesen Problemen läge, die kapitalistische Unterdrückung nicht mehr verschleiert wäre und endlich eine »menschliche Gesellschaft« zum Vorschein käme.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Sozialistinnen und Sozialisten für ihre politische Haltung wieder rechtfertigen müssen, weshalb wir uns in Erinnerung rufen sollten, dass der Sozialismus immer schon eine humanistische Bewegung war, und das auch bleiben wird: eine Bewegung, die Menschen von Herrschaft, Entfremdung und Ausbeutung befreit und für individuelle Entfaltung, Kreativität und geistige Erfüllung eintritt.
Sozialistinnen und Sozialisten verfolgen dieses Ziel schon lange. Als der Sozialismus im ausgehenden 18. Jahrhundert zur Massenbewegung wurde, war es nicht unüblich, ihn als größte menschliche Errungenschaft seit dem Neuen Testament zu feiern. Seine Anhänger hielten ihn für eine zur Rettung der Gesellschaft nötige Bewusstseinserneuerung.
Angesichts der Bedrohung durch den Faschismus im Europa des frühen 20. Jahrhundert hielt sich der deutsche Sozialist Leo Kerstenberg an das Motto »Erziehung zur Menschlichkeit«. Vom sozialistischen Kampf erhoffte er sich den Brückenschlag zu einem radikalen neuen »Humanismus« in einer Gesellschaft, die Freundlichkeit statt Ausbeutung belohnt. Karl Kautsky, auch bekannt als der »Papst des Marxismus«, beschwor die Idee des »sozialistischen Bewusstseins« als Mittel zur »Rettung der Nation« (konkret meinte er die Vereinigten Staaten).
»Im Kapitalismus wird unsere Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes reduziert, und das wirkt sich auf unser soziales Wohlergehen genauso fatal aus wie auf unsere wirtschaftliche Aktivität.«
Ungefähr genauso leidenschaftlich klang auch Salvador Allende als er einige Jahrzehnte später seine erste Rede vor dem chilenischen Parlament hielt und den Sozialismus als eine »Mission«, eine neue Sinnstiftung für das Land beschrieb: »Wie können wir es schaffen, dass die Menschen, besonders junge Menschen, eine Mission für ihr Leben finden, die ihnen wahre Freude bereitet, ihrem Leben Würde verleiht? Es gibt nur einen Weg: Wir müssen die großen, kollektiven Aufgaben anpacken. Zum Beispiel müssen wir in eine neue Phase der Conditio Humana eintreten, die bis heute von der Spaltung in Privilegierte und Besitzlose degradiert war. […] Hier und jetzt, in Chile, in Lateinamerika, haben wir die Chance – und Pflicht –, kreative Kräfte freizusetzen, vor allem die der Jugend, und zwar für eine Mission, die uns mehr inspirieren wird als alles je dagewesene.«
Das war das Herzstück Marx’scher Philosophie: Elan und das Streben nach persönlicher Entwicklung. Nach eben solchen Maßstäben lebte die große deutsch-polnische Sozialistin Rosa Luxemburg. Einem Genossen schrieb sie: »Mensch sein heißt sein ganzes Leben ›auf des Schicksals großer Waage‹ freudig hinwerfen, wenn’s sein muss, sich zugleich aber an jedem hellen Tag und jeder schönen Wolke freuen … Die Welt ist so schön bei allem Graus und wäre noch schöner, wenn es keine Schwächlinge und Feiglinge auf ihr gäbe.«
Auch die US-amerikanische Bürgerrechtskämpferin und Sozialistin Ella Baker legte in ihrem Alltag besonderen Wert auf Menschlichkeit. Sich zu organisieren bedeutete für sie, den Geist der Menschen wachzurütteln, sie zu ermutigen, die Welt zu verändern. »Schenke Licht«, sagte Baker bekanntlich, »und die Leute werden ihren Weg finden«. Leute dagegen wie Spielbälle zu behandeln, wenn auch zu emanzipatorischen Zwecken, war einer sozialistischen Gesinnung zuwider.
Oft genug haben Kritikerinnen und Kritiker die ethische und humanistische Seite des Sozialismus mit dem »utopischen Sozialismus« verwechselt, den Marx heftig attackiert hatte. Er grenzte sich ab von Denkern wie Charles Fourier und Robert Owen, deren hyperidealistische Vorstellungen sich zu beinahe magische Fantasien auswuchsen. Marx verstand seine Arbeit als wissenschaftlich. Damit gemeint war eine ganzheitliche Erkundung des Wissens, sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften. Marx’ Kritik an den gegenwärtigen Zuständen zielte darauf ab, die Würde der Menschen zu verwirklichen – er verachtete die »seelenlosen« Waren des Kapitalismus und was sie mit den Menschen machten.
Der wohl größte sozialistische Theoretiker und Erfinder einer Art post-säkularen humanitären Meta-Moralismus war Jean Jaurès, bekannt für seine Histoire socialiste de la révolution française von 1901. Jaurès hatte die herrschenden Diskurse im Frankreich der Jahrhundertwende erforscht, und fand sie schrecklich stupide. Der Nationalismus sei eine bewusst reaktionäre Strategie zur Verhinderung von höherem Denken. Die offizielle Religion, deren hochgelobte Wohltätigkeit zur Vertuschung neuer Formen der Unterdrückung diene, sei ein Gift. Und aus dem in Mode gekommenen Spiritualismus jener Tage – der Theosophie etwa, die Menschen der organisierten Religion entlockte und neuen post-säkularen Kulten zutrieb – wurde ein dilettantischer Mystizismus, der den Mut der Leute zermalme, um sich für die Kämpfe des echten Lebens zu wappnen. Allein dem Sozialismus, so Jaurès, gelänge es, das Gewissen der Menschen zu emanzipieren und ihre unbegrenzten Möglichkeiten aufzudecken.
»Allen diesen Traditionen und Figuren geht es um einen Sozialismus, der nicht nur gegen die Knappheit materieller Güter kämpft, sondern genauso gegen die Knappheit immaterieller, menschlicher Werte.«
Später im 20. Jahrhundert gehörte Isaac Deutscher, bekannt für seine einschlägigen Stalin- und Trotzki-Biographien, zu den Vertretern eines »Gewissensmarxismus«. Als Jude aus Galizien und Mitglied der polnischen statt der deutschen Kommunistischen Partei, war Deutscher in der einzigartigen Position, sowohl die Entzauberung des Staatssozialismus im Osten, als auch den neuen linken Pessimismus im Westen mitzuerleben. Immer wieder bezog er sich auf das Kernanliegen des Marxismus: Menschen als Subjekte begreifen. Deutscher beobachtete, dass diese Subjekthaftigkeit – zu der wir alle in der Lage wären – vom Kapitalismus entstellt, zerquetscht und gelähmt wurde. Im Kapitalismus wird unsere Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes reduziert, und das wirkt sich auf unser soziales Wohlergehen genauso fatal aus wie auf unsere wirtschaftliche Aktivität. Deutscher erhoffte sich vom Sozialismus die Entfaltung und Reintegration unserer Persönlichkeit, also eine Neuentdeckung von Eigenschaften, die wir schon vergessen hatten.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machte sich die kubanische Physikerin Celia Hart für den Traum von einem humanitären Sozialismus stark. Viel zu jung war Hart bei einem Autounfall gestorben. Zuvor hatte sie sich für die Wiederbelebung eines, wie sie es ausdrückte, »schönen Kampfes« eingesetzt. Trotz ihrer Kritik am Staatssozialismus in Kuba hielt sie an den politischen Parteien und deren Rolle auf dem Weg zu einer »besseren Menschheit« fest. Ihr Motto war ein Zitat des kubanischen Dichters José Marté: »Patria es Humanidad« (»Unser Vaterland ist die Menschheit«). Sie rief zur Rückkehr zum ursprünglichen Sozialismus auf und sprach sich für eine Art marxistische Ökumene aus: »Wir brauchen all jene, die den Menschen die Wahrheit sagen«.
Allen diesen Traditionen und Figuren geht es um einen Sozialismus, der nicht nur gegen die Knappheit materieller Güter kämpft, sondern genauso gegen die Knappheit immaterieller, menschlicher Werte: Respekt, Anerkennung, Selbstverwirklichung. Moralische und seelische Angelegenheiten wurden nie beiseitegeschoben, denn auch sie sind integraler Bestandteil für Entfaltung menschlicher Subjekte.
»Spirituell, nicht religiös« ist ein Klischee unserer Zeit, das wir im Sinne jener Tradition ersetzen könnten als »sozialistisch, nicht religiös«. Wir streben nicht nach dem Ende der Geschichte, sondern nach einem wahrhaftigen Anfang.
Adam J. Sacks hat einen MA und einen PhD in Geschichte von der Brown University und einen MS in Pädagogik vom City College der City University of New York.