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05. November 2025

Merz’ rassistische Ablenkung hat Tradition

Die Stadtbild-Debatte ist nicht nur ein Schauspiel des Alltagsrassismus in Deutschland, sondern auch ein Ablenkungsmanöver: Unzufriedenheit soll sich an Ausländern entladen statt an der Politik, die dabei versagt, lebenswerte Städte für alle zu schaffen.

Friedrich Merz spricht auf einem Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg in Stuttgart, 17. Mai 2025.

Friedrich Merz spricht auf einem Landesparteitag der CDU Baden-Württemberg in Stuttgart, 17. Mai 2025.

IMAGO / Bihlmayerfotografie

Die Äußerung von Bundeskanzler Friedrich Merz, es gäbe »im Stadtbild noch dieses Problem«, das durch verstärkte Abschiebungen gelöst werden könne, hat es nun geschafft, wochenlang die Öffentlichkeit zu beschäftigen – samt Gegenprotesten, Unterstützungsbekundungen und leidenschaftlichen Mediendebatten. Dass Merz selbst laut Umfragen momentan von nur knapp einem Viertel der Bevölkerung unterstützt wird oder dass die Wirtschaft nach wie vor stagniert, tritt in den Hintergrund zugunsten einer erneuten Migrationsdebatte.

Merz’ Kommentare kamen nicht aus dem Nichts, sondern verdeutlichen das Weltbild des deutschen Bundeskanzlers: von den »kleinen Paschas«, über den »importierten Antisemitismus« von Menschen, die in den letzten zehn Jahren nach Deutschland gekommen seien, bis zur »ungeregelten Einwanderung in unsere Sozialsysteme«. Diese Kontinuität macht deutlich, dass »der Ausländer« in seinem Denken ein beständiges Problem darstellt, das weg muss.

Doch es gibt auch eine andere Kontinuität in Merz’ Handeln: Das geschickte Ausnutzen von rassistisch aufgeladener Rhetorik, um von sozialer Spaltung abzulenken und Ungleichheit zu normalisieren. Hieß es in den 1990er Jahren noch »Das Boot ist voll«, wird heute anhand eines angeblich verfallenden Stadtbilds ein Feind an die Wand gemalt, der für die gesellschaftliche Misere verantwortlich sein soll.

Worum es wirklich geht

Die Stadtbild-»Debatte« macht eine ganze Bandbreite von rassistischen und sexistischen Stereotypen deutlich. Menschen mit Migrationsgeschichte würden den Sozialstaat ausnutzen, um sich ein leichtes Leben zu machen und, wann immer sie wollen, in der Stadt abzuhängen, denn sie müssten nicht arbeiten.

Dahinter steckt ein Sozialchauvinismus, der arme Menschen abwertet, Hass auf sie schürt und von der eigentlichen Frage ablenkt: von Armut betroffene Menschen haben sich ihre Lebenslage nicht selber ausgesucht, sondern sind aufgrund von Klassenverhältnissen in sie hineingeboren. Versuche, ihnen zu entkommen, werden durch die Bundesregierung erschwert. Mehr noch: Sie betreibt tagtäglich eine Politik, die die Menschen in Armut, Rechts- und Statuslosigkeit drängt, nur um es ihnen dann persönlich zum Vorwurf zu machen.

Einen Tag später, auf Nachfrage, was Merz denn konkret meine, antwortete er: »Fragen Sie mal Ihre Töchter.« Damit markiert er die von ihm gemeinten Menschen als potentiell gewalttätige und sexuell übergriffige Männer. Das Bild des »Ausländers«, der es auf deutsche Frauen abgesehen habe, ist ein immer wiederkehrender Topos im systematischen Alltagsrassismus hierzulande – insbesondere, wenn es um Schwarze Menschen geht.

»Migration wird zum Problem stilisiert, weil es politisch nützlich ist.« 

Merz inszeniert sich dabei als schützender Patriarch, so die politische Soziologin Rosa Burç: »Frauen, die nur als ›Töchter‹ Subjekte sind, Männer, die nur dann als gefährlich markiert werden, wenn sie migrantisch sind, migrantische Irregularität eingeschrieben in die Illusion einer weißen Nation«. Eine Petition von Aktionskünstlerin Cesy Leonhard macht deutlich, um was es eigentlich geht: »Wir haben ein strukturelles Problem mit Gewalt gegen Frauen – fast immer im eigenen Zuhause. Die Täter sind nicht irgendwelche Menschen im ›Stadtbild‹, sondern Ehemänner, Väter oder (Ex)Partner.«

Merz nachträgliche Spezifizierung, es gehe ihm um »Einwanderer ohne Aufenthaltsrecht und Arbeit, die sich nicht an die in Deutschland geltenden Regeln halten« würden, macht es nicht besser. Erstens kann man den Aufenthaltsstatus eines Menschen nicht an seinem Gesicht ablesen. Genauso wenig den Arbeitsstatus – viele Menschen mit Migrationshintergrund sind gezwungen, in prekärer Situation ermüdende Schicht- oder Nachtdienste zu leisten. Und welche Regeln Merz meint, bleibt ebenso nebulös. Sind es Gesetze, Werte oder Normen? Welche möglichen Regelbrüche insinuiert er? Es wird deutlich, dass diese Unklarheit Teil einer Kommunikationsstrategie ist, die gleichzeitig jeden und fast niemanden meinen könnte.

Eine rassifizierende und ausschließende Einordnung ermöglicht Merz’ Aussage hingegen schon. Denn betroffen von dieser Markierung sind potentiell alle, die von einer weißen Dominanzgesellschaft nicht als deutsch gelesen werden und sich den Tag über in öffentlichen Räumen aufhalten. Nicht umsonst äußerte sich der Überlebende des rechtsterroristischen Hanau-Anschlags Said Etris Hashemi: »Ich bin das Stadtbild, vor dem Merz warnt. Die 9 Menschen, die in Hanau ermordet wurden, wurden Opfer genau dieser Denkweise.« Zu dem Stadtbild, das nicht sein darf, gehören auch Shishabars, die sich der Attentäter als Ort seines Anschlags unter anderem ausgesucht hatte.

Zweitens wird deutlich, dass es sich empirisch nur um eine sehr geringe Menge an Menschen handelt, die sich »ohne Aufenthaltsrecht« im Land befinden. Mit Stand Ende Juni 2025 befanden sich etwa 226.000 Menschenausreisepflichtig im Land. 185.000 von ihnen hatten jedoch eine Duldung, sodass nur etwa 41.000 Menschen konkret ausreisepflichtig sind. Neben abgelehnten Asylbewerbern können dies auch Studierende oder Touristen sein, deren Visum abgelaufen ist.

Die Duldung ist zwar kein echter Aufenthaltstitel, aber dennoch eine Bescheinigung über den legalen Aufenthalt. Sie kann erteilt werden aufgrund von völkerrechtlichen oder humanitären Gründen, bei Absolvierung einer qualifizierten Berufsausbildung, wenn man ein minderjähriges Kind hat, das eine Aufenthaltserlaubnis hat, wegen schwerwiegenden Erkrankungen oder aus anderen rechtlichen Gründen, die eine Ausreise verhindern, zum Beispiel fehlende Reisedokumente und ungeklärte Identität. Die Chance, eine der von Merz im Nachgang angeblich gemeinten Personen im Stadtbild einer der 80 Großstädte, 624 Mittelstädte oder der 2.112 Kleinstädte zu sehen, ist damit im realen Leben verschwindend gering.

Erfolgreich abgelenkt

Es wird deutlich, dass rassistische Platzzuweisungen funktionieren. Migration wird zum Problem stilisiert, weil es politisch nützlich ist. Die Zufriedenheit der Bevölkerung mit der Bundesregierung ist im Keller. Laut einer Insa-Umfrage sehen 66 Prozent der Befragten die Arbeit der Bundesregierung kritisch, nur noch 25 Prozent sind zufrieden. Um davon abzulenken, setzen Merz und Konsorten in bezeichnender Regelmäßigkeit darauf, die nächste rassistische Migrationsdebatte zu schüren.

Denn sie funktioniert jenseits konkreter Empirie. Mit unter 88.000 Erstanträgen bis Ende September 2025 ist die Zahl der Asylsuchenden so niedrig wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr. Bis Ende Juni gab es in der gesamten EU nur 399.000 Asylanträge und damit 23 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Diese Problematisierung funktioniert sehr ähnlich zum Sozialchauvinismus, der sich in der Verschärfung des Bürgergelds ausdrückt, das nun Grundsicherung heißen soll. Auch hier wurden Fantasiezahlen von 100.000 faulen »Totalverweigerern« in die Debatte gebracht – in Realität handelt es sich nur um eine sehr kleine fünfstellige Zahl an Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen die Zusammenarbeit mit dem Amt nicht schaffen.

»Die ständige Problematisierung von Migration und Flucht ist in Deutschland letztendlich auch ein Vorwand, um nicht über die Themen sprechen zu müssen, die eigentlich anstehen.«

Die »Reform« wurde zudem von der Union dafür gepriesen, 5 Milliarden Euro einzusparen. Tatsächlich werden für 2026 nur rund 86 Millionen Euro und für 2027 rund 69 Millionen Euro an Einsparungen erwartet. 2028 könnte es sogar Mehrkosten geben. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Stadtbild-Debatte genau dann von Merz geschürt wurde, als sich die Versprechungen der Union im Bezug auf die neue Grundsicherung als Luftnummer erwiesen.

Im Kern der Debatte geht es um Entrechtung und eine Hierarchisierung der Gesellschaft, um Lohnarbeit und die Legitimierung von Ungleichheit, um die Zuweisung des »angestammten« Platzes in einem rassistisch strukturierten, kapitalistischen Arbeitsmarkt. Wie die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo schreibt: »Je prekärer die Arbeitskräfte sind, desto ausgelieferter sind sie. […] Deshalb ist jede noch so rassistische Mobilisierung gegen Migrantinnen und Migranten kein Kampf gegen Migration an sich, sondern ein Angriff auf die Rechte dieser Menschen.« Den als Probleme des Stadtbilds markierten Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus sollen diese Rechte vorenthalten werden. Sie werden markiert und ausgeschlossen.

Die ständige Problematisierung von Migration und Flucht ist in Deutschland letztendlich auch ein Vorwand, um nicht über die Themen sprechen zu müssen, die eigentlich anstehen: die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten, Investitionen in die marode Infrastruktur des Landes oder auch die so dringend notwendige sozial-ökologische Transformation.

Kerem Schamberger ist Referent für Flucht und Migration bei medico international.