28. Juli 2021
Ein tschechischer Polizist kniete so lange auf dem Genick des Rom Stanislav Tomáš, bis er aufhörte zu atmen. 50 Jahre nach dem ersten Welt-Roma-Kongress braucht es heute wieder eine Bewegung, die entschieden gegen die Unterdrückung der Roma kämpft.
Am 26. Juni versammelten sich Hunderte im tschechischen Teplice um den Tod von Stanislav Tomáš zu würdigen.
Letzten Monat kursierte in den sozialen Medien ein erschütterndes Video. Es zeigt einen Polizisten, der auf dem Genick eines 46-jährigen Mannes kniet, der sechs lange Minuten stöhnt und sich windet, bevor er schließlich erstickt. Obwohl sich die Situationen erschreckend ähneln, war das Opfer nicht George Floyd, sondern Stanislav Tomáš. Er ist das jüngste Opfer von Polizeigewalt gegen Angehörige der Roma in Europa – dieses Mal durch die tschechische Polizei. Die offiziellen Reaktionen dazu reichten von schockierenden Aussagen bis hin zu Schweigen. Die tschechischen Behörden verteidigten das Vorgehen der Polizei umgehend. Sie behaupteten, die vorgenommenen Handlungen stünden in einem angemessenen Verhältnis zur Kriminalität des Getöteten. In der Zwischenzeit entbrannten in ganz Europa Solidaritätsproteste, um Gerechtigkeit zu fordern.
Die Tötung von Stanislav Tomáš ist kein Einzelfall. Sie fügt sich ein in die zunehmende strukturelle, sozioökonomische Diskriminierung und Gewalt gegen Roma und Romnja. Stanislavs Fall ist auf tragische Weise charakteristisch: Ein ermordeter Rom aus einer Community, die beim Zugang zu Bildung, Arbeit, sanitären Einrichtungen, Infrastruktur und Wohnraum diskriminiert wird – und so praktisch ghettoisiert wird. Zum Zeitpunkt seines Todes war Stanislav angeblich obdachlos.
Von Matteo Salvini, der in Italien zu einer »Massensäuberung, Straße für Straße, Piazza für Piazza« aufruft, bis hin zu den Anti-Roma-Pogromen, die bereits in Frankreich, Nord-Mazedonien, Rumänien, Ungarn, der Slowakei und Bulgarien stattfinden: Eine zeitgenössische rechtsextreme Internationale führt seit dem Zusammenbruch des Kommunismus auf dem ganzen Kontinent einen Krieg gegen die Roma und Romnja, der sich immer weiter zuspitzt. Diese Entwicklungen sind untrennbar mit der fast ausnahmslos schlechten wirtschaftlichen Situation der Roma und Romnja verbunden. Seit der Erodierung sozialer Absicherung und der Entstehung eines Wohlfahrtschauvinismus werden Roma-Communitys häufig als unproduktive, überschüssige Bevölkerung behandelt. Die Hegemonie der »Erhaltung des Lebens«, die vor dem Neoliberalismus innerhalb der globalen politischen Ökonomie bestand, hat sich im zeitgenössischen Kapitalismus biopolitisch zum »sterben lassen« verschoben. Die Situation der europäischen Roma und Romnja verdeutlicht das.
Verheerend ist, dass es bislang noch keine Massenbewegung größeren Ausmaßes innerhalb der europäischen Roma-Bevölkerung gibt, die dieser Entwicklung etwas entgegensetzen könnte. Dabei brauchen die Roma und Romnja, die auf dem gesamten Kontinent verstreut leben, eine kollektive politische Bewegung, die weitere Roma und Romnja für die Verteidigung ihrer Community mobilisiert und Forderungen nach kollektiver Befreiung von den Bedrohungen durch Gewalt, Polizeibrutalität und massenhafter Armut artikuliert.
In der Vergangenheit haben sich Aktivistinnen und Aktivisten der Roma-Community selbst an den dunkelsten und hoffnungslosesten Orten organisiert. Eine Bewegung ist dabei besonders hervorzuheben: der Welt-Roma-Kongress (WRK).
An einem Wochenende im April 1971 traf sich eine Gruppe von Delegierten aus 23 Nationen von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in Cannock House in der Londoner Vorstadt, welches damals noch ein kleines Internat war. Das Treffen wurde einberufen, um die gemeinsame Identität einer der größten und ältesten Diaspora Europas zu festigen: den Roma und Romnja. Sie mussten sich einer Reihe von Herausforderungen stellen. Was fehlte, war eine gemeinsame Kultur. Auch die Sprache in allen ihren verschiedenen Varietäten beherrschte nur die Hälfte von ihnen. Gleichzeitig gab unter der Roma-Bevölkerung eine schwer greifbare Sehnsucht nach Einheit. Diesen Themen wollte sich die Gruppe widmen. Finanziert und unterstützt wurden sie dabei durch die Bewegung der Blockfreien Staaten, bei der Indien und das sozialistische Jugoslawien eine führende Rolle spielten.
Am Ende des Wochenendes hatten die Delegierten sich auf eine gemeinsame Flagge, eine Hymne, einen Nationalfeiertag und ein gemeinsames politisches Vorhaben geeinigt. Sie wollten für Selbstbestimmung und kollektive Bürgerrechte kämpfen. Es war kein Copy-and-Paste-Projekt zur nationalen Befreiung. Der WRK proklamierte eine Nationalität ohne Grenzen, die keinen Anspruch auf ein nationales Territorium erhebt.
Der WRK beschwor dieses radikale, scheinbar unmöglich zu erreichende Ideal nach dem totalen Krieg – dem verheerenden Angriff einer internationalen faschistischen Koalition, die die Roma-Bevölkerung zusammen mit Jüdinnen und Juden, Menschen mit Behinderung und vielen anderen vernichten wollte. Adolf Eichmann, der Verwalter der Massenmorde, schätzte, dass die Nazis und ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg über 500.000 europäische Roma und Romnja getötet hatten. Diesen Völkermord bezeichnet man als »Porajmos« – in Romanes »das Verschlingen«. Diese Zahl ist lediglich Spekulation. Denn keine einzige Romni wurde in den Nürnberger Prozessen von den Alliierten als Zeugin geladen. Der WRK wurde mit dem Wissen um diese Geschichte einberufen, angetrieben von der Überzeugung, dass der Porajmos einen eschatologischen Moment bot, um diese historische Abfolge von Katastrophen zu beenden.
Es ist keine Überraschung, dass der Grundstein des WRK in den internationalistischen Idealen des blockfreien Sozialismus gelegt wurde. Nach einem kurzen anfänglichen Moment der Hoffnung wurden die Bestrebungen zur Emanzipation der Roma und Romnja in der Sowjetunion durch das stalinistische Programm zur russischen Homogenisierung schnell zunichte gemacht. Und in den kapitalistischen Ländern herrschte die Verfolgung und Vertreibung der Roma und Romnja schon lange vor.
Die Symbolik des Projekts der Nationenbildung der Roma und Romnja erinnert stark an das sozialistische Jugoslawien. Frühe Varianten der WRK-Flagge übernahmen den jugoslawischen roten Stern, heute ein rotes Rad. Slobodan Berberski, ein frühes und aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, wurde zum ersten WRK-Präsidenten gewählt, und die WRK-Hymne »Djelem, djelem« (»Ich lief, ich lief«) wurde von dem serbischen Roma-Partisanen Žarko Jovanović geschrieben, der darin ausdrücklich auf die Verbrechen der kroatischen faschistischen Ustascha Bezug nimmt.
Beberski erläuterte, als er den Vorsitz des WRK übernahm, dessen Ziele in einer leidenschaftlichen Eröffnungsrede:
»Unser Ziel ist es, die Roma weltweit zu vereinen und zu mobilisieren. Wir stehen überall vor den gleichen Problemen: Wir wollen an unseren eigenen Bildungsidealen festhalten, unsere Roma-Kultur bewahren und weiterentwickeln … Wir waren viel zu lange untätig – und ab heute können wir gewinnen.«
Im Wesentlichen strebte das Projekt die Bildung einer politischen Gemeinschaft an, um so die Handlungsmacht der Roma und Romnja zu stärken. Die langfristigen Ambitionen des Ersten WRK waren ebenfalls klar: Es sollte den »amaro Romano drom« ebnen – den Weg der Roma und Romnja zu ihrer Befreiung.
Ein weiteres Gründungsmitglied des WRK, Grattan Puxon, hatte bereits in der Vergangenheit fahrende Gemeinschaften in Großbritannien und Irland gegen deren Vertreibung organisiert. Er sah den Weg zur Befreiung in einem neuen mimetischen und doch subversiven Nationalismus. Dieser Nationalismus drehte sich um das Konzept des »Romanistan«, das in allen Roma-Gemeinschaften verwurzelt ist: von Šuto Orizari über die Mahalas von Mitrovica bis hin zum ehemaligen Gelände der Dale Farm in Essex. Dieser (Inter-)Nationalismus enthält die positiven Komponenten der Nationenbildung, die notwendig sind, um den rechtlichen Schutz für staatlich anerkannte Minderheiten zu verbessern und erhält gleichzeitig einen offenen Raum, der von einer radikal vielfältigen Diaspora besetzt werden kann. Er verfällt damit nicht in jene gefährliche Exklusivität, die sich in den Nationalismen der Aufklärung findet. Dies steht in krassem Gegensatz zu der extremen Fremdbestimmung und Exklusivität, die für die Entstehung des europäischen Faschismus maßgebend waren.
Die Institution, die Baberski und Puxon mitaufbauten, hat Tausende Roma dazu inspiriert, mit tradierten Klischees zu brechen, ein neues Selbstbewusstsein ihrer Gemeinschaft zu schaffen, einen neuen (Inter-)Nationalismus zu entwickeln und Bildungsprojekte zu organisieren. Sie hat darüber hinaus ein beispielloses Licht auf die menschenrechtliche Notlage der Roma und Romnja geworfen. Heute ist der WRK, der nun zum zehnten Mal stattfindet, jedoch angesichts der eskalierenden Bedrohung durch Massenarmut, staatliche Verfolgung und Gewalt, einschließlich des tragischen Mordes an Stanislav Tomáš, kooptiert und zahnlos geworden.
Puxon erklärte im April 2021 in einem Interview mit dem Roma Education Fund, die europäische Bewegung sei zersplittert. Zusammenarbeit oder aktive Koalitionsbildung würden kaum mehr stattfinden. An anderer Stelle bemerkte er, dass die alten Institutionen, die seine Generation aufgebaut hat – darunter auch der WRK – an Radikalität verloren haben und nicht mehr in den Gemeinschaften verwurzelt sind, für die sie zu sprechen behaupten. Er erinnerte sich an die Ereignisse des Ersten Kongresses:
»In der überschwänglichen Würdigung [des Rechts der Roma und Romnja auf Selbstbestimmung] verbirgt sich eine subtile Herabstufung dessen, was der Kongress beabsichtigte … Als ob für 24 Stunden [am Internationalen Roma-Tag] eine Amnestie gilt und die Obrigkeit jegliche Vorurteile beiseite schiebt.«
Für Gemeinschaften wie die von Stanislav kann es keine Amnestie ohne Gerechtigkeit und keine Selbstbestimmung ohne Befreiung geben.
Die Ziele des WRK wurden zu einer Zeit formuliert, als die europäischen Roma noch von grundlegenden sozialen Sicherheitsnetzen und einem mehr oder weniger allgemeinen Zugang zu Dienstleistungen, Bildung, Wohnraum und Beschäftigung profitieren konnten. Aber für ihre Gemeinschaften hatten die neoliberale Wende und der Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa (MOE) katastrophale Folgen. Ein Bericht der Weltbank, der in István Pogánys The Roma Café zitiert wird, stellt fest:
»Die Roma sind die größte armutsgefährdete Gruppe in den mittel- und osteuropäischen Ländern. Sie sind ärmer als andere Gruppen, fallen eher in Armut und bleiben eher arm ... die Armutsraten sind mehr als zehnmal so hoch wie die von Nicht-Roma ... fast 80 Prozent der Roma in Rumänien und Bulgarien lebten von 4,30 Dollar pro Tag ... in Ungarn, einem der wohlhabendsten Beitrittsländer, leben 40 Prozent der Roma unter der Armutsgrenze.«
Die Roma-Gemeinschaften leben in prekärer Marginalität. Oft können sie weder ihre Mieten noch die Kosten für private Dienstleistungen zahlen. Gleichzeitig bleibt ihnen der Zugang zu den verbliebenen Überresten der öffentlichen Versorgung völlig verwehrt. Obwohl die Universalität der Menschenrechte formal verankert ist, kam die Parlamentarische Versammlung des Europarats in einer Überprüfung der rechtlichen Situation der Roma und Romnja in Europa zu folgendem Schluss:
»Diskriminierung ist in jedem Bereich des öffentlichen und persönlichen Lebens weit verbreitet, einschließlich des Zugangs zu öffentlichen Plätzen, Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsdiensten und Wohnraum … Die wirtschaftliche und soziale Segregation der Roma entwickelt sich zu einer ethnischen Diskriminierung.«
Gesellschaftliches Engagement bleibt für die große Mehrheit der Roma-Gemeinschaften ein Luxus. Anstatt sich darauf zu konzentrieren, dieses zu fördern, sollte der WRK lokale Gemeinschaften international organisieren, um für materielle und wirtschaftliche Rechte zu kämpfen: für gutes Wohnen und Zugang zu Land, für Bildung, für sanitäre Einrichtungen, für den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen.
Dies sollte in Verbindung mit juristischer und politischer Bildung geschehen, damit die Gemeinschaften diesen Kampf in den Gerichten ausfechten und, wo immer nötig und möglich, gewaltlosen Widerstand leisten können. Eine zeitgemäße Strategie muss sich am Überleben und der Verteidigung orientieren. Puxon beteiligte sich selbst aktiv am Widerstand gegen die Räumung der Dale Farm in Essex im Jahr 2011. Er praktiziert genau die Art von Community Organizing, die der WRK heute vorantreiben sollte.
Der WRK hat spektakuläre Erfolge für die internationale Roma-Gemeinschaft erzielt. Er schuf einen progressiven, antifaschistischen (Inter-)Nationalismus; er inspirierte Tausende dazu, sich mit neuem Selbstbewusstsein als Teil einer vielfältigen und diversen Gemeinschaft zu begreifen; er schärfte das Erscheinungsbild der Roma und Romnja als Minderheit in der Diaspora, die Anspruch auf rechtlichen Schutz hat; und er startete viele öffentliche Bildungsprogramme, um die Kultur der Roma und Romnja zu pflegen und ein Gefühl der Handlungsfähigkeit zu entfachen. In der gegenwärtigen historischen Situation ist die Roma-Bevölkerung jedoch einer gezielten, aggressiven Bedrohung durch gewalttätige staatliche Kräfte und rechtsextreme Mobs ausgesetzt, die auf die kollektive Bestrafung und Vernichtung einer Bevölkerung aus sind, die von ihnen als überschüssig wahrgenommen wird.
In Stanislavs Heimatland, der Tschechischen Republik, liegt die Arbeitslosenquote unter Roma und Romnja zwischen 80 und 85 Prozent. Die Mehrheit derjenigen, die eine Beschäftigung haben, arbeitet in prekären Arbeitsverhältnissen zu Niedriglöhnen. Es überrascht daher nicht, dass viele von ihnen verschuldet sind, weshalb sie massenhaft aus Sozialwohnungen verdrängt werden. Zwangsräumungen haben für eine effektive Ghettoisierung gesorgt. Die Roma und Romnja leben in kaum bewohnbaren Behausungen, denen es oft an grundlegenden Ausstattungen fehlt. Hier stößt die progressive Nationenbildung an ihre Grenzen. Puxons Romanistan befindet sich in einem Krisenzustand. Es ist Zeit für ein Umdenken.
Die Originalfassung dieses Textes wurde bei Verso Books veröffentlicht.
Sean Benstead ist Aktivist und Autor aus dem Großraum Manchester.
Sean Benstead ist Aktivist und Autor aus dem Großraum Manchester.