15. September 2020
Wir leben in einer Welt, in der die Rezepte linker Politik nicht mehr funktionieren und Parteien durch mediale Politik-Start-Ups ersetzt werden. Eine reale Dystopie.
»Was soll’s – was passiert, passiert, mein Gott.« Vor ein paar Monaten hätte sich Maria jetzt eine Zigarette angezündet, während sie die Schultern hochzieht und ihr Blick knapp an meinem vorbeigeht. Das darf man inzwischen nicht mehr, seit ein paar Monaten gilt das absolute Rauchverbot auch im Pausenraum. Wir unterhalten uns während einer ihrer knappen Pausen, in zehn Minuten wird sie wieder im Lager stehen, dafür sorgen, dass Hänge- und Liegeware an den richtigen Ort gelangen, Hemden aufgebügelt und Etiketten korrekt angebracht werden. Wir befinden uns in einer ehemaligen Fabrikhalle etwas südlich von Wien. Vor rund zehn Jahren wurde das Gebäude in den Logistikkreislauf eines international agierenden Textilhandelsunternehmens eingegliedert. Nun arbeiten über 300 Menschen in dem Warenverteilzentrum, fast ausschließlich Frauen, die wenigsten sind in Österreich geboren. Sie bereiten Kleidungsstücke, die aus aller Welt angeliefert werden, für den Verkauf in Ost- und Südosteuropa auf. Ich bin im Rahmen eines Forschungsprojekts hier, will etwas über die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Beschäftigten erfahren und mehr darüber, was sie über Politik und Gesellschaft denken und wie sie ihre eigene Rolle darin sehen. Die Antworten sind ebenso aufschlussreich wie ernüchternd.
Vor wenigen Wochen wurde auf Schichtarbeit umgestellt. Für die Arbeiterinnen, von denen nicht wenige Kinder zu betreuen haben, bedeutet das eine drastische Umstellung ihres Alltags. Maria stößt ihr resigniertes »Was soll’s« aus, als ich sie danach frage, was die Einführung des Schichtbetriebs für sie bedeutet. Sie hätte auch sonst genug Grund zur Beschwerde. Vorgeschriebene Überstunden, Bezahlung nach einem falschen Tarifvertrag, Aussicht auf Altersarmut, Überwachung, wenig Platz und wenig Zeit, um die angeordneten Tätigkeiten zu verrichten.
Ich ziehe mir einen wässrigen Kaffee um 50 Cent aus dem Automaten im Pausenraum und muss an eine Formulierung aus dem Kapital denken, mit der Marx die »große Industrie« beschreibt: »erhöhte Anspannung der Arbeitskraft, dichtere Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit«. Maria gegenüber erwähne ich das nicht, sie ist in Polen aufgewachsen und hat mir in früheren Gesprächen sehr deutlich gemacht, was sie vom Sozialismus hält. Deshalb will sie auch keiner Gewerkschaft beitreten, die seien ihr »zu sozialistisch«, das kenne sie von früher und das könne ihr gestohlen bleiben. Den Zumutungen des Arbeitslebens begegnet sie mit einer Mischung aus Gottergebenheit und dem Stolz, auch unter schwierigen Bedingungen einen guten Job zu machen. Dass die Bedingungen selbst anders und angenehmer eingerichtet werden könnten, scheint für sie schlicht undenkbar zu sein. Überhaupt sind »Gesellschaft« und »Arbeit« hier zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben. Das ist die vorherrschende Haltung, auf die ich immer wieder in den verschiedenen Logistikbetrieben stoße. Am Arbeitsplatz herrscht eine Naturgewalt, der man sich acht bis zehn Stunden pro Tag anzupassen hat. Das eigentliche Leben findet danach statt, in der Kleinfamilie oder im engsten Freundeskreis, wo man sich erholt und zerstreut. Politik ist etwas ärgerliches, unnötiges, man will von ihr möglichst nicht behelligt werden.
Man mag einwenden, das sei nichts Neues. Seit Jahrzehnten beklagen Politikerinnen und Journalisten »Politikverdrossenheit« oder eine »Repräsentationslücke«: Teile des Wahlvolks, deren Interessen über Jahrzehnte von den großen Volksparteien (weichgespült, aber doch) in den politischen Betrieb eingespeist worden waren, fühlen sich zunehmend ohne Stimme.
Die meisten Versuche linker Neuanfänge in den letzten Jahren folgten der Grundannahme, wonach der politische Raum das Vakuum verabscheue. Jede Repräsentationslücke würde früher oder später von der einen oder anderen politischen Kraft, von links oder rechts, oben oder unten gefüllt. Wäre es nach gut vierzig Jahren neoliberaler Politik und mehr als zwanzig Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier, das den Seitenwechsel der europäischen Sozialdemokratie im Klassenkampf formalisiert hatte, nicht an der Zeit, diese Annahme kritisch zu prüfen? Was, wenn die Krise in Wirklichkeit viel tiefer reicht? Was, wenn es nichts zu füllen gibt, wenn die Leere immer größer, der Raum für Politik immer kleiner wird? Wenn Politik, wie wir sie kannten, langsam verschwindet?
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Benjamin Opratko ist Politikwissenschaftler an der Universität Wien, Redakteur des mosaik-blogs und der Monatszeitschrift Das Tagebuch.