29. Mai 2025
Der Nährboden für die AfD im Osten war nicht der Verfall von Moral, sondern der Verfall von Fabriken. Kollektive Betriebsarbeit ist das beste Mittel, um diesen Nährboden auszutrocknen.
Gewerkschafter versammeln sich im Chemnitzer Streiklokal während der zweiten Verhandlungsrunde für die rund 70.000 Tarifbeschäftigten im Telekom-Konzern, 17. April 2024.
Hoffnung ist das letzte Gefühl, das ich verspüre, wenn ich durch einen kleinen Ort in Thüringen zum Betrieb fahre – eine Kleinstadt, die durch die Treuhand nicht nur ihre bis dahin berühmte Industrie verlor, sondern in der mit der DDR nicht nur die Leute weggingen, sondern mit ihnen die Kneipen. Dafür kamen rechte Strukturen, denen immer noch wenige Antifaschistinnen und Antifaschisten eher aus Stolz als auf Aussicht auf Erfolg trotzen. Nicht nur die leerstehenden Häuser, auch die Blicke der Menschen, die dort noch über die Straße laufen, sind der Grund, weshalb ich Anfang der 2000er Jahre meine Heimatstadt Chemnitz verließ.
»Zecken klatschen«, davon hörte ich bereits in der dritten Klasse, ohne zu wissen, wer damit gemeint ist. Während die Treuhand unseren Eltern die Arbeitslosigkeit hinterließ, brachte sie uns leere Fabrikhallen, in denen wir uns entfalten konnten, sein konnten und dennoch immer Angst haben mussten vor »den Faschos«. Keine Bar ohne Hinterausgang, kein Jugendclub ohne einen Plan für das Szenario »Wenn sie kommen«. Die Atmosphäre absoluter Freiheit war ein zweischneidiges Schwert. An Räumen für uns mangelte es nicht, Investoren aus dem Westen waren noch nicht auf die Idee gekommen, uns räumen zu lassen, um aus den Fabrikhallen Eigentumswohnungen zu machen. Eine Freiheit, die heute nicht mehr vorstellbar ist. Aber diese Freiheit gab eben auch Nazis alle Möglichkeiten, sich zu organisieren und anzugreifen, wen sie wollten.
Ich hatte das Privileg zu gehen, das Privileg zu studieren, in einer Stadt, die mir Sicherheit gab und die Möglichkeit antifaschistisches Engagement als Hobby zu sehen und nicht als Überlebenskampf. Und dennoch war mir immer klar: Zeichen setzen reicht nicht. Denn der Nährboden im Osten, in meiner Heimatstadt, war nicht der Verfall von Moral, sondern der Verfall der Fabriken, der Wirtschaft, die zerschlagen wurde, nachdem die Mauer fiel. Mit ihr fiel nicht nur die DDR, auch ganze Biografien zerfielen. Massenhaft verloren Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Zukunft, manche standen nicht mehr auf, manche probierten sich in neuen Berufen. Dennoch blieb sie, die Angst vor Neuem und die Angst vor der Zukunft. Ein Gefühl, mit dem wir Kinder dieser Generation aufgewachsen sind, wie mit der Idee, dass wir nicht zählen.
Weder wusste ich, was Gewerkschaften sind, noch hatte ich eine Vorstellung von Mitbestimmung in Betrieben, als ich als Studentin in Jena anfing, 50 Meter neben dem Gewerkschaftshaus. Und doch ist meine Arbeit als Gewerkschaftssekretärin die logische Konsequenz meines Ziels, das zu verhindern, was nicht nur im Osten möglich ist: der Verfall gesellschaftlicher Strukturen, der Raum für faschistische Ideen, der Verlust der Hoffnung.
Die Hoffnung, dass es auf sie ankommt, dass sie etwas verbessern können an ihrer Situation, finde ich auch bei meinem ersten Besuch hier im Betrieb nicht. Ein Blick, der mit nicht neu ist, den ich in vielen, vor allem ländlichen Betrieben sehe. Dort arbeiten Beschäftigte oft entgrenzt und für wenig Geld. »Dafür würde im Westen keiner aufstehen«, erklärte mir eine Kollegin aus einer Werkzeugfabrik schon vor Jahren. Begrenzt von dem Mantra, »wer aufmuckt, fliegt«, das in den 1990er Jahren kein Gedankenspiel, sondern eine klare Ansage ihrer neuen Chefs aus dem Westen war, war Gewerkschaftsarbeit lang schwierig. Einzelne Mutige konnten sich nicht durchsetzen gegen die Resignation einer ganzen Belegschaft. Ohne gewachsene und etablierte Betriebsratsstrukturen waren sie oft nicht dem gewachsen, was der Osten lang war: die verlängerte Werkbank.
Doch seit den 2010er Jahren geht diese Generation in Rente und macht Platz für neuen Aufruhr und den Kampf um Würde. Je beteiligungsorientierter und konfliktorientierter Gewerkschaftsarbeit ist, die Möglichkeiten für Neues, für Erfolge bietet, desto mehr Platz gibt es auch für die »Neuen«, die sich dagegen entscheiden, den Arbeitsplatz jeden Morgen mit Angst zu betreten.
»Nicht selten fließen auch Tränen bei den Kolleginnen und Kollegen, die sich entschieden haben, um ihre Rechte zu kämpfen.«
Wirtschaftlich geht es ihnen seit zwei Jahren auch hier besser. Wie in vielen anderen ostdeutschen Betrieben haben die Beschäftigten durch erfolgreiche Streiks die Lohnlücke zum Westen geschlossen. Viele haben das erste Mal in ihrem Leben gestreikt. Politisch hat das jedoch viele nicht verändert, zu lang die Resignation, zu fest oft schon das Weltbild. Doch einige Beschäftigte haben sich geöffnet, für Zusammenarbeit mit Umweltaktivisten, für Forderungen an Politikerinnen, für das Wichtigste im Betrieb: für Diskussionen miteinander. Denn die größte Gefahr für die Demokratie ist nicht nur die AfD, sondern die Vereinzelung, die Einsamkeit. Sie macht empfänglich für stumpfe Botschaften.
Auch hier haben sich viele eingelassen auf neue Wege, auf neue politische Verbündete, als diese jedoch bei der Streikdemo die Antifa-Fahne hissten, war diese Bereitschaft wieder vorbei. Dennoch lassen sich hier mehr und mehr Arbeiterinnen und Arbeiter nicht mehr alles gefallen und sind damit Teil einer neuen Generation, eines neuen Mutes im Osten. Sie kämpfen nicht mehr nur für mehr Lohn, sondern auch um Respekt.
Einer von ihnen ist Rico. Als Nachrücker kam er in den Betriebsrat und wusste wenig über die Rechte, die sie als Beschäftigte haben, die sie als Betriebsräte durchsetzen können. Aber eins wusste er, als er hörte, was ihnen eigentlich an Mitbestimmung gesetzlich zustände: Er wird es nicht mehr hinnehmen, dass der Betriebsrat nur auf dem Papier existiert und sie weder angehört werden, wenn es um neue Einstellungen geht, noch Dienstpläne zu Gesicht bekommen. Nicht mal ein Büro, das ihnen eigentlich zusteht, haben sie. Minütlich werden wir unterbrochen, als wir im Aufenthaltsraum über die Ungerechtigkeiten sprechen, die sie hier schon lang ertragen. Unreguliert werden hier Überstunden verordnet, die Belegschaft stemmt hier den Fahrbetrieb, für den es doppelt so viele Mitarbeiter bräuchte.
Nicht selten fließen auch Tränen bei den Kolleginnen und Kollegen, die sich entschieden haben, um ihre Rechte zu kämpfen. Oft ist die Repression der Geschäftsführung zu groß, aber auch der Druck aus der Belegschaft. Die Busse sind alt, die Menschen oft krank. Doch gemeinsam mit dem Anwalt, der mit seinem migrantischen Namen und Aussehen erstmal für hochgezogene Augenbrauen sorgt, kämpfen sie seit zwei Jahren um die Durchsetzung ihrer Mitbestimmung als Betriebsräte. Oft mit Erfolg, dennoch auch zermürbend, denn die Arbeitsgerichte sind langsam und unerfahren mit den Fragen um das Betriebsverfassungsgesetz.
Zuerst erkämpften sie ihr Büro, dann ihre Mitbestimmung. Fünf Abmahnungen hat Rico bereits kassiert, vier davon sind bereits gerichtlich wieder aufgehoben worden. »Es reicht eben nicht, dass man einen Angestellten als nervig sieht, um ihn abzumahnen«, erklärt der Richter der Anwältin der Geschäftsführung. Zu lang gab es keine Judikative, umso geschockter ist jetzt auch die Landrätin, die als Landkreis den Auftrag an das Unternehmen vergibt. Die vielen Gerichtsprozesse wären teuer für sie, erklärt sie in der Betriebsversammlung. Dass Gesetze seitens der Geschäftsführung gebrochen werden, interessiert leider wenig. Dabei kämpfen die Betriebsräte um das, worüber man sich in den Telegram-Chats, in denen hier viele Beschäftigte sind, selbst oft lustig macht: Demokratie.
Und tatsächlich müssen sie wieder lernen, gemeinsam abzustimmen, gemeinsam Entscheidungen zu treffen. Bei jeder Versammlung geht es erstmal viel um ihre Wut, und wenn sie wieder verflogen ist, dann um die Ohnmacht. Aber dieses Mal ist es anders – jemand hört zu, jemand aus dem Kreistag. Von der Linken und von der SPD hat man hier keine gute Meinung. Dennoch freuen sie sich, dass jemand da ist, jemand, den es interessiert.
»Vorpolitischer Raum«, nennt Steffen Mau den Ort, der im Osten fehlt und der es erlaubt, sich gemeinschaftlich für die eigenen Interessen einzusetzen, sie überhaupt zu kennen. Isoliert voneinander und geprägt von einer Region, wo Übrigbleiben zum Grundgefühl zählt, ist es einfach, dem Hass zu folgen, statt kollektiv zu handeln. Es ist leichter, gegen etwas zu sein, statt für etwas.
»Gewerkschaftliche Kämpfe öffnen eine der wenigen Türen zu den Momenten, wo Haut- oder Parteifarbe keine Rolle spielt.«
Und auch, wenn Rico die AfD wählt und seine Kollegen nur als »sehr rechts und ein bisschen rechts« einstuft, fällt er mit seinen Kollegen dennoch aus dem Rahmen. Er setzt sich ein, predigt Zusammenhalt, spricht von seinem migrantischen Anwalt als »seinem Freund« und beschäftigt sich in der Kommunalwahl ernsthaft mit Inhalten. Wer unterstützt ihre Interessen und nicht wer hetzt am besten gegen andere, lautet diesmal die Frage.
Und dennoch wird man keinen von ihnen auf einer Demonstration für Demokratie sehen. Auch Gewerkschaftsarbeit ist kein Allheilmittel gegen die menschenfeindlichen Bilder im Kopf vieler Beschäftigten. Es hat viele Jahre gebraucht, ihre Köpfe für diese Bilder zu öffnen, und es wird auch Jahre brauchen, der AfD den Nährboden zu entziehen, den sie sich über Jahre bestellt hat.
Doch es gibt nur diese Chance, denn mit Moralpredigten überzeugt man hier niemanden mehr. Zu lange war es egal, wie es ihnen geht, zu selten sehen sie sich repräsentiert in Medien oder Politik. Was zählt, ist der direkte Erfolg vor Ort. Was zählt ist, ob sie es schaffen, ihr Stück vom Kuchen abzubekommen, von Sichtbarkeit und Gerechtigkeit. Wer sie unterstützt, wird nicht vergessen, wer sie vergisst, wird nicht unterstützt. Gewerkschaftliche Kämpfe öffnen eine der wenigen Türen zu den Momenten, wo Haut- oder Parteifarbe keine Rolle spielt. Es geht um die Chance auf eine Hoffnung, die hier viele nicht kennen – nicht nur auf bessere Arbeit, sondern auf eine Zukunft.
Dieser Gastbeitrag erscheint in Vorbereitung auf die Debatte »Was tun gegen den Rechtsruck?«, die auf dem bevorstehenden Marx is' Muss Kongress stattfinden wird.
Katja Barthold arbeitet seit 10 Jahren als Gewerkschaftssekretärin. Geboren und aufgewachsen in Karl-Marx-Stadt, späteren Chemnitz, ist sie seit ihrer Jugendzeit politisch aktiv.