08. Dezember 2022
Gewerkschaften müssen in der Inflation auf eine Doppelstrategie aus Lohnkämpfen und politischen Forderungen setzen.
Die Linke als organisierte progressive Kraft ist gegenwärtig weitgehend wirkungslos.
Der Gegenwartskapitalismus befindet sich in einer Vielfachkrise. Externe Schocks wie die Corona-Pandemie, gerissene globale Wertschöpfungsketten und nun der Ukrainekrieg treffen auf langfristige Umbrüche wie die Globalisierung, die Digitalisierung und die Klimakrise. Alle gesellschaftlichen Akteure, vor allem aber Staat, Parteien, Unternehmen und Gewerkschaften stehen vor einem Problempanorama, das nur mit größtem Kraftaufwand zu bewältigen ist.
Dabei überrascht es nicht, dass die gegenwärtige Krisenpolitik von jenen Kräfteverhältnissen geprägt ist, die drei Jahrzehnte neoliberale Hegemonie und linke Defensive hinterlassen haben. Wie in der Finanzmarktkrise ab 2008 dominiert ein Notfall-Pragmatismus, in denen vor allem die Krisenbearbeitung des herrschenden Blocks an der Macht zum Ausdruck kommt. Er enthält durchaus Elemente, die neoliberalen Dogmen widersprechen und die als Zugeständnisse an Gewerkschaften und öffentliche Meinung zu werten sind: Wirtschaftshilfen für Unternehmen, Zuschüsse zu Arbeits- und Sozialeinkommen, die Mobilisierung staatlicher Ressourcen über Neben- und Schattenhaushalte sowie rettende Verstaatlichungen von Unternehmen, die als »too big to fail« gelten – deren Reprivatisierung nach der Krise jedoch vorab zugesichert wird.
»Werden die Erwartungen der Gewerkschaftsmitglieder enttäuscht, kann das in eine politische Entfremdung münden, die sich durch keine Demonstration am Wochenende wettmachen lässt.«
Wenn die Eliten ihre Macht- und Verteilungsinteressen nur so wahren oder gar eine Systemkrise abwenden können, dürfen auch ideologische Blockaden bei der Schuldenaufnahme oder Eingriffen in den Energiemarkt zeitweise ausgesetzt werden. Die gesellschaftliche Linke sollte sich jedoch keinen Illusionen hingeben. Die weitreichende Staatsintervention markiert keine fortschrittliche Verschiebung in den sozialen und politischen Kräfteverhältnissen. Die Linke als organisierte progressive Kraft ist gegenwärtig weitgehend wirkungslos.
Im Gegenteil, in dieser Konstellation droht alsbald eine Welle sozialer, ökologischer und demokratiepolitischer Rückschritte. Spätestens im Zuge des Abbaus der exorbitanten öffentlichen Defizite werden sozialstaatliche Leistungen und ökologische Infrastrukturinvestitionen unter Druck geraten. Eine wirkliche Kompensation der Krisenkosten für die abhängig Arbeitenden ist nicht in Sicht. Überteuertes und ökologisch katastrophales Fracking-Gas aus den USA zu importieren, während der Ausbau regenerativer Energieträger stagniert, bedeutet einen Rückfall hinter erreichte Ökologiestandards, wie unzulänglich diese auch gewesen sein mögen. Und der Aufschwung von AfD und rechten Protestbewegungen gefährdet selbst die limitierten Spielräume liberaler Demokratie.
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Hans-Jürgen Urban ist Akademiker, kommt jedoch »aus der Arbeiterklasse« und engagierte sich schon früh in der Gewerkschaftsbewegung. Für den beruflichen Einstieg in die IG Metall entschied er sich unter anderem durch den Kampf um die 35-Stunden-Woche. Seine wissenschaftlichen Beiträge zum sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft bereichern seit Jahren die Gewerkschaftslinke.