28. Dezember 2020
Thomas Piketty zeigt mit seiner Forschung, dass Kapitalismus zwangsläufig zu Ungleichheit führt. Doch seine Gegenentwürfe fallen dürftig aus.
Thomas Piketty
Vor Thomas Piketty gab es Bernie Sanders. »Die amerikanische Bevölkerung ist wütend«, verkündete er 2012 im US-Senat. »Wütend, weil die Mittelklasse wegen der von der Wall Street verursachten Rezession zusammenbricht ... wütend, weil die Arbeitslosigkeit so hoch ist, dass 50 Millionen Menschen keine Krankenversicherung haben und sich Arbeiterfamilien das College für ihre Kinder nicht leisten können.« Sanders fuhr fort, Statistiken über die verzerrte Einkommensverteilung in einem Land zu vorzutragen, das noch immer von einer schweren Rezession gebeutelt ist.
Es dauerte noch ein weiteres Jahr, bis Pikettys Hauptwerk über die Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften, Das Kapital im 21. Jahrhundert, veröffentlicht wurde. Kämpfe um wirtschaftliche Umverteilung hatten von nun an eine neue wissenschaftliche Untermauerung. Doch bis zur praktischen Umsetzung eines solchen Programms ist der Weg noch weit – insbesondere nach den Wahlniederlagen von Sanders und Jeremy Corbyn.
Pikettys lang erwartete Fortsetzung, Kapital und Ideologie, könnte uns helfen zu verstehen, warum das so ist. Während sein erstes Buch die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensungleichheit in den Industrieländern behandelte, so konzentriert sich Piketty in seinem neuen Werk auf die Beständigkeit und Legitimation solcher Ungleichheiten. Denn jede kapitalistische Gesellschaft denkt sich ihre eigene Legitimation für ihre Eigentumsrechte aus. Piketty definiert Ideologie ohne Umschweife als »eine Reihe von grundsätzlich plausiblen Ideen und Diskursen, die beschreiben, wie eine Gesellschaft strukturiert sein sollte.«
Kapital und Ideologie beschreibt eingehend das Eigentumsregime in Europas »proprietären« Gesellschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, in denen die Heiligsprechung der Eigentumsrechte auf die Spitze getrieben wurde. Die Abschaffung der Sklaverei mag als krönende Errungenschaft liberaler, aufklärerischer Werte angesehen worden sein, aber die Sklavenhalter wurden – in völliger Harmonie mit den herrschenden Normen – für ihr verlorenes Eigentum großzügig entschädigt. Haiti zahlte seine »Schulden« bei den Sklavenhändlern mehr als ein Jahrhundert lang ab; der Westen würde es dem haitianischen Volk niemals verzeihen, dass es sich als erstes Land die Dekolonisation erkämpft hatte.
Obwohl die Französische Revolution eine formelle Gleichberechtigung verlautbarte, wurde das Recht auf Eigentum zu einer neuen Religion. Wie Piketty argumentiert, zählte dazu auch die mangelnde Einigkeit darüber, wo die Umverteilung aufhören sollte – wenn sie denn überhaupt stattfinden sollte. Dazu kam die anhaltende Angst, dass man es mit der Umverteilung zu weit treiben könne. Diese Art der Argumentation kommt einem unheimlich vertraut vor, wenn man die jüngsten Versuche zur Verhinderung progressiver Reformen – mit ihren vagen Hinweisen auf »unbeabsichtigte Folgen« und »moralische Risiken« – verfolgt hat.
Die ständige Beschwörung der Schrecken »sozialistischer« Regime sind das moderne Äquivalent der »Anfang vom Ende«-Erzählung des 18. Jahrhunderts. Ein prominentes Beispiel dafür ist die in den USA verbreitete Vorstellung, dass gewöhnliche Umverteilungsmaßnahmen, wie etwa eine öffentlich finanzierte Gesundheitsversorgung – welche in den USA auf einen Einkommenstransfer von den Unternehmensgewinnen auf die Löhne hinauslaufen würde – zu Verhältnissen wie in Venezuela führt.
Pikettys Hauptanliegen ist jedoch nicht das Ungleichheitsregime selbst oder sein Legitimitätsproblem, sondern die Entwicklung einer progressiven Besteuerung. Das Buch erzählt die bekannte Geschichte über den Anstieg von geringen Einkommenssteuersätzen, der den modernen Staat erst möglich machte. Die Steuerausbeute europäischer Staaten stieg stetig: von bescheidenen 1 bis 3 Prozent des Volkseinkommens in den Jahrhunderten vor der Industriellen Revolution auf 30 bis 50 Prozent in der Nachkriegszeit.
Eine progressive Fiskalpolitik und Wohlfahrtsregime stabilisierten den Kapitalismus, indem sie die mit wachsenden Ungleichheiten verbundenen Probleme lösten. Piketty schließt sich anderen Ökonomen und Historikerinnen unserer Zeit an, wenn er argumentiert, dass die nachfolgende »neoliberale« Periode schlicht eine Rückkehr zur kapitalistischen Normalität war: Das alte Regime heiliggesprochener Eigentumsrechte hat sich nach drei Jahrzehnten kriegsbedingter Fieberträume wieder behauptet.
Der Kapitalismus war schon immer dazu vorbestimmt in Ungleichheit zu enden. Letztlich verblassten auch die Kräfte, die das Gegengewicht zur Ideologie des Eigentums bildeten. Vor allen Dingen wurden laut Piketty die sozialdemokratischen Parteien von den bürgerliche Schichten vereinnahmt und haben die Unterstützung der arbeitenden Klasse zunehmend verloren. In der Folge triumphierte in den letzten dreißig Jahren der »Hyperkapitalismus«.
Seiner Diagnose entgegnet Piketty mit einem Rezept. Die Lösung, argumentiert er, liegt in der Wiederherstellung eines progressiven Steuersystems – diesmal auf globaler Ebene. Dadurch soll ein friedlicher, von der Politik gesteuerter Übergang zu einer Art »partizipatorischem Sozialismus« ermöglicht werden, in dem jeder »ein universelles Recht auf Bildung und Kapitalausstattung, freien Personenverkehr und eine de facto Abschaffung von Grenzen« genießen könne.
Doch Pikettys sozialistische Vision geht über diese Forderung nach einer permanenten Umverteilung durch das Steuersystem hinaus. Sein Plan stellt die bürgerlichen Eigentumsrechte offen in Frage. All das ist ein direkter Leitfaden zur Überwindung des heutigen Kapitalismus – dargelegt von einem prominenten Mainstream-Ökonomen.
Es ist daher überraschend, dass die meisten Kommentare der sozialistischen Linken zu Pikettys Werk abweisend sind – sofern es überhaupt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihm gab. Die häufigste Reaktion war der Vorwurf, Piketty sei – abgesehen von der Hommage an Marx in seinen Buchtiteln – nicht marxistisch genug.
Trotzdem ist die Frage berechtigt, inwieweit Sozialisten Piketty folgen sollten. Das Versprechen von Kapital und Ideologie war es, die Unzulänglichkeiten seines vorherigen Werks zu korrigieren. Bei diesem lag der Fokus nämlich auf der quantitativen Analyse von Gleichheit – ohne zu beantworten, wie die Eliten existierende Ungleichheiten rechtfertigen. Wie schon bei seinem vorherigen Band ist der beeindruckendste Aspekt Pikettys Arbeit empirischer Natur: Er führt eine Vielzahl von Quellen – Erbschaftsdokumente, Volkszählungslisten, Steuerbelege, Flurkarten – zu massiven quantitativen Datensätzen zusammen.
Einige marxistische Ökonomen mögen sich über Pikettys scheinbare Unfähigkeit beklagen, die mit ihrer Tradition verbundenen – eher obskuren – Konzepte, zu erfassen. Die meisten von ihnen übertrifft er jedoch deutlich an bloßer empirischer Neugier: Sein Buch ist ein ernsthafter Versuch, unsere soziale Welt ohne einfache Abstraktionen zu erfassen. Piketty liebt gute Schaubilder und es ist oft eine Freude, sie zu betrachten.
Aber Datensätze sind letztlich kein Ersatz für eine Theorie der Geschichte. Allzu oft fühlt sich Kapital und Ideologie wie eine Form des Strukturalismus für das Zeitalter des TED-Talks an. Obwohl Piketty die Literatur gelesen und die Statistiken gemeistert hat, fehlt seiner Analyse der nötige Kleber, um all diese Fakten miteinander zu verbinden.
Demnach ist die »Marxsplaining«-Kritik an der Arbeit des großen Ökonomen nicht ganz unbegründet. So merkte etwa der französische Philosoph Frédéric Lordon an: Piketty »spielt den Marxisten«, ohne aber die Instrumente gelernt zu haben, und bahne sich so mittels »Auto-Tune« seinen Weg in einen etablierten Diskurs – ohne dabei die Noten richtig lesen zu können. Auf die Frage, ob er Karl Marx’ Kapital überhaupt gelesen habe, antwortete Piketty, dass er das Werk »zu schwierig« fand.
Letztendlich ist Pikettys Auffassung vom Kapital zu starr ökonomisch, ohne den reichen sozialen Kontext zu haben, in den Marx seine Analyse eingebettet hat. Er ist gefangen auf der Oberfläche von Bilanzen und Erbschaftssummen. Pikettys Methode ist eben quantitativ. Von Zahlen hypnotisiert, geht er kaum der Frage nach, wie sich bestimmte Formen des Reichtums in historischen Perioden unterscheiden.
Trotzdem können Marxisten viel von Pikettys Arbeit lernen. Was ihr an Synthese fehlt, macht sie durch schiere Raffinesse und Umfang wieder wett. Er insistiert: Keine Gesellschaft ist dazu bestimmt, ungleich zu sein. Schweden war früher eines der ungleichsten Länder der westlichen Hemisphäre – erst nach einem jahrzehntelangen Kampf der Arbeiterbewegung des Landes wurde es zu einem Vorbild für soziale Mobilität. Dort nahm die Ungleichheit nicht aufgrund der Kultur oder gar von Natur aus ab. Die Entwicklung war das Ergebnis eines politischen Willens, der eine dominante Ideologie durch eine andere ersetzen wollte.
Piketty fasst das zentrale Argument seines Buches bereits am Anfang zusammen: »Jede Gesellschaft muss versuchen, die Frage zu beantworten, wie sie organisiert werden soll, gewöhnlich auf der Grundlage ihrer eigenen historischen Erfahrung, manchmal aber auch auf der Grundlage der Erfahrungen anderer Gesellschaften.« In diesem Zusammenhang ist »Ideologie« ein Mittel zur Rechtfertigung sozialer Arrangements, welche bestimmte Gruppen unverhältnismäßig stark begünstigen können. Jede Gesellschaft wird eines Tages ihre eigene intellektuelle Rechtfertigung dafür finden müssen, auf welche Art und Weise sie organisiert ist.
Dennoch bemisst Piketty der Ideologie – nach seiner Begriffsdefinition – als Erklärung für die Stabilität des modernen Kapitalismus eine zu hohe Bedeutung bei. Grund für diese Stabilität ist vermutlich vielmehr die Resignation der Menschen, die sich mit einer ihnen feindlich gesinnten Welt schlicht abfinden. Sie wissen zwar, dass diese Welt das Produkt menschlichen Handelns ist, können es aber nicht kontrollieren.
Unser tägliches Verhältnis zu den Märkten ist ein perfektes Beispiel für diese Dynamik. Obwohl wir wissen, dass Preise von menschlichem Handel bestimmt werden, können wir nicht einfach kollektiv entscheiden, diese Preise zu ändern. Wir sind zum Überleben auf Märkte angewiesen und müssen sie wie eine unveränderliche Naturgegebenheit akzeptieren. »Ideologie« ist hier weniger bewusste Manipulation der Eliten, als ein Schicksal, mit dem wir uns abfinden. Schließlich ist es einfacher, unser eigenes Leiden zu rationalisieren, als sich vorzustellen, dass die Dinge anders sein könnten.
Piketty selbst empfand Resignation als ein Hindernis für seine politischen Vorhaben. Trotz bester Bemühungen von Jeremy Corbyn und Bernie Sanders sinkt der gewerkschaftliche Organisationsgrad in der entwickelten kapitalistischen Welt immer weiter, und eine neue Runde quantitativer Lockerung fungiert als Katalysator für Ungleichheit. Unter diesen Umständen läuft Piketty Gefahr, zu einem politischen Äquivalent von WikiLeaks zu werden.
WikiLeaks hat mutig Verbrechen aufgedeckt, die von Regierungen auf der ganzen Welt begangen werden: Massenüberwachung, außergerichtliche Tötungen und illegale Kriege. Doch die öffentliche Wirkung der Enthüllungen war gering. Ohne eine glaubwürdige gesellschaftliche Instanz – die den Status quo in Frage stellen kann – reicht Whistleblowing alleine nicht aus, die Menschen aus ihrer Selbstzufriedenheit zu wecken. Sicher, die Lage sieht nicht gut aus. Aber was hilft dieses Wissen, wenn wir keine Möglichkeit finden, etwas an den Umständen zu ändern?
In den letzten zehn Jahren haben wir einen explosionsartigen Anstieg der empirischen Ungleichheitsforschung erlebt – teilweise vorangetrieben durch eine Datenrevolution in der Ökonometrie und zunehmend digitalisierten Archiven. Politische Bewegungen, die diese Ungleichheiten in Frage stellen, haben Pikettys Datensätze als intellektuelle Waffe eingesetzt. Doch ohne praktische Strategie und ohne organisatorisches Gewicht, kämpfen Bewegungen vergebens um die breite Unterstützung in der Bevölkerung, die nötig ist, um Veränderungen herbeizuführen.
Letztendlich wird »Ungleichheit« erst dann zu einem Problem, wenn wir es zu einem Problem machen – keinen Augenblick vorher. Denn, wie Machiavelli schon wusste: Die einzigen siegreichen Propheten, waren diejenigen, die sich bewaffneten.
Anton Jäger ist Doktorand an der Universität Cambridge und beschäftigt sich mit der Geschichte des Populismus in den Vereinigten Staaten. Zurzeit arbeitet er zusammen mit Daniel Zamora an einer intellektuellen Geschichte des Grundeinkommens.
Dominik A. Leusder ist Ökonom und Autor. Gegenwärtig ist er Doktorand an der London School of Economics.
Dominik A. Leusder ist Ökonom und Autor. Gegenwärtig ist er Doktorand an der London School of Economics.