27. April 2023
Am Tarifabschluss im öffentlichen Dienst scheiden sich die Geister. Klar ist: Die übliche Tarifpolitik kommt an ihre Grenzen. Streiks werden immer wichtiger.
Am 27. März erreichte die Mobilisierung ihren Höhepunkt, als Ver.di und die EVG gleichzeitig zum Streik aufriefen.
Die Tarifrunde im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen ging mit einer großen gewerkschaftlichen Mobilisierung einher. Die Warnstreiks legten Teile des öffentlichen Lebens lahm. Die Runde endete mit einem Schlichtungsspruch. Der Kompromissvorschlag sieht eine durchschnittliche Entgelterhöhung von 11,5 Prozent vor, die unteren Lohngruppen profitieren von Zuwächsen um bis zu 17 Prozent. Hinzu kommt ein Inflationsausgleich von insgesamt 3.000 Euro.
Ein großer Erfolg oder ein Tropfen auf den heißen Stein? In dieser Frage scheiden sich die Geister. Mit dem Kompromiss sei Ver.di »an die Schmerzgrenze gegangen«, so der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft, Frank Werneke. Zwar betonen die meisten hauptamtlichen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, dass die Entgeltsteigerung höher als bei anderen Tarifbewegungen sei und verweisen auf harte Verhandlungen und Zugeständnisse der Arbeitgeber.
Viele Gewerkschaftsaktive sind hingegen weniger zufrieden. Aufgrund der hohen Inflation und der Laufzeit von 24 Monaten habe man mit diesem Tarifabschluss letztlich Reallohnverluste hingenommen. Gerade das Inflationsjahr 2022 werde nicht ausgeglichen. Außerdem sei die enorme Mobilisierung eine solide Basis für einen unbefristeten Streik gewesen.
Dass die Einschätzungen derart auseinanderklaffen, hat mit den außergewöhnlichen Umständen der Tarifbewegung zu tun. Corona, Krieg und Inflation drücken Arbeitskämpfen ihren Stempel auf. So kam es auch im Fall der Tarifrunde Deutsche Post AG zu einem harten Konflikt. Ver.di nahm das nachgebesserte Angebot der Arbeitgeber erst nach Ankündigung eines unbefristeten Streiks an.
»Der Inflationsschub war profitgetrieben: Große Energie- und Lebensmittelkonzerne nutzten ihre Marktmacht, um schamlos die Preise zu erhöhen.«
Für die Konfliktintensität ist vor allem die hohe Inflation verantwortlich, die 2022 branchenübergreifend zu deutlichen Reallohnverlusten geführt hat. Eine Inflation von rund 7 Prozent war in keinem laufenden Tarifvertrag vorgesehen, die Gewerkschaften standen also bereits vor den Verhandlungen unter immensem Druck. Hinzu kam, dass viele Beschäftigte während der Corona-Pandemie bereits Einbußen hinnehmen mussten – und zwar nicht nur diejenigen, die in den systemrelevanten Berufsgruppen völlig überlastet wurden.
Im Normalfall folgen auf Krisen meist Tarifrunden mit deutlichen Reallohnsteigerungen. Doch diesmal kam es anders. Die Invasion Russlands in die Ukraine wurde zum Preistreiber. Der Inflationsschub war, so die Ökonomin Isabella Weber, profitgetrieben: Die großen Energie- und Lebensmittelkonzerne nutzten ihre Marktmacht, um schamlos die Preise zu erhöhen. Die daraufhin steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten trafen kleinere Gelbeutel besonders hart.
Mehr noch: Die »Greedflation« hebelte gängige tarifpolitische Instrumente aus. Die Strategie eines gewerkschaftlichen »Krisenkorporatismus«, die seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 immer wieder zur Krisenbekämpfung angewendet wurde, geriet an ihre Grenzen. Das komplexe Tauschgeschäft von Lohnzurückhaltung, umfangreicher Nutzung von Kurzarbeit zur Stabilisierung des Arbeitsmarkts und milliardenschweren staatlichen Krisenpaketen prägte zwar die Corona-Jahre 2020 und 2021. Die korporatistische Wette auf eine Normalisierung schlug jedoch fehl. Der Inflationsschock entwertete bestehende Tarifvereinbarungen.
Es kam, wie es kommen musste: Ende 2022 forderten die Beschäftigten und Gewerkschaften legitimerweise deutlich höhere Löhne; die Kapitalseite stand teils aufgrund steigender Energiepreise und Lieferengpässe selbst unter Druck, und die öffentliche Hand geriet unter unnötige Sparzwänge, die aus dem FDP-geführten Bundesfinanzministerium verordnet wurden.
Die Beschäftigten sind nach den Entbehrungen der Pandemie-Jahre bereit, für ihre Forderungen einzutreten. Die Gewerkschaften verspüren bei den aktuellen Tarifrunden entsprechend starken Rückenwind. Hinzu kommt, dass der robuste Arbeitsmarkt und der Fachkräftemangel ihnen in die Karten spielen. Die Mobilisierungserfolge treffen den Zeitgeist: Nachdem Ver.di jahrelang rote Zahlen in der Mitgliederbilanz schrieb, verzeichnete die Gewerkschaft in den vergangenen Monaten rund 90.000 neue Beitritte. Gesellschaftlich setzte die Dienstleistungsgesellschaft durch einen gemeinsamen Streiktag mit Fridays for Future ein starkes Zeichen.
Die Politik bleibt jedoch in veralteten Denkmuster verhaftet. Im Rahmen der Konzertierten Aktion von Regierung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften wurde vor dem Hintergrund der galoppierenden Inflation die Idee ins Spiel gebracht, eine vermeintliche Lohn-Preis-Spirale durch überzogene Lohnforderungen mit steuerfreien Einmalzahlungen auszubremsen. Dem lag jedoch eine Fehlannahme zu Grunde: Statt einer Lohn-Preis-Spirale war vielmehr eine Profit-Preis-Spirale losgetreten worden. Dies wurde den politischen Entscheidungsträgern nur langsam bewusst. Der Staat schöpfte die »Zufallsgewinne« erst spät und nur teilweise ab. Die Gaspreisbremse blieb ein schwaches Instrument und war sozial unausgewogen gestaltet. Die profitgetriebene Inflation nahm so ihren Lauf.
»Die Lohnerhöhungen sind hoch, aber reichen nicht aus, um den Kaufkraftverlust aus dem Jahr 2022 zu kompensieren.«
Aus diesem Grund gingen die Gewerkschaften »verschuldet« in die Tarifauseinandersetzungen. Die hohen Inflationsverluste waren kaum einzuholen, gleichzeitig war schnelle finanzielle Unterstützung dringend notwendig. Die Tarifeinigungen im öffentlichen Dienst, in der Metall- und Elektroindustrie und bei der Deutschen Post können daher als Notlösungen gelten. Inflationsausgleichsprämien wirken zwar unmittelbar, aber eben nicht langfristig. Die Lohnerhöhungen sind hoch, aber reichen nicht aus, um den Kaufkraftverlust aus dem Jahr 2022 zu kompensieren. Laut Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), belaufen sich die Reallohnverluste im öffentlichen Dienst perspektivisch auf satte 6 Prozent. Den Beschäftigten droht bei der Entlohnung eine verlorene Dekade.
Die Tarifabschlüsse führen dazu, dass gewerkschaftliche Auseinandersetzungen vertagt werden. Die 24-monatige Laufzeit verschiebt harte Verteilungskämpfe auf Ende 2024 und Anfang 2025. Bereits jetzt wirkt die Inflation als Streiktreiber: Schon im zweiten Halbjahr 2022 konnten im Streikmonitor-Projekt an der Universität Erfurt ungewöhnlich viele hart ausgetragene betriebliche »Häuserkämpfe« beobachtet werden. Hierbei spielten hohe Lohnforderungen eine Schlüsselrolle. Diese Dynamik hat sich in den Tarifrunden Anfang 2023 zugespitzt. Das erhöhte Konfliktniveau bei den aktuellen Streiks wurde kürzlich erst in einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft belegt.
Vergleichbare Entwicklungen lassen sich in den europäischen Nachbarländern ausmachen. In Großbritannien kam es seit dem Sommer 2022 zu einer regelrechten Streikwelle. Beschäftigte bei Bahnunternehmen, Universitäten, der Royal Mail oder im Gesundheitswesen legten die Arbeit nieder und forderten höhere Löhne. In Frankreich führte die geplante Rentenreform zu umfangreichen politischen Streiks, an denen sich bis zu 2 Millionen Beschäftigte beteiligten.
Der Streikzyklus begann in Deutschland verspätet und verlief in abgeschwächter Form. Die gewerkschaftliche Strategiebildung stellt sich jetzt auf das neue Umfeld ein. Die Forderung der IG Metall nach einer 32 Stunden- beziehungsweise einer 4-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich für die kommende Tarifrunde Eisen und Stahl zielt darauf ab, aus der Defensive zu kommen. Durch die hohe Inflationsrate, die im Normalfall zweistellige Lohnforderungen impliziert hätte, werden drei Stunden weniger Arbeit plötzlich zur verhandelbaren Forderung.
Streiks werden in den kommenden Jahren eine zentrale Rolle spielen, um den Kaufkraftverlust aufzuhalten. Doch der Tarifkonflikt könnte rauer werden: Die Arbeitgeberseite rüstet sich bereits für ruppigere Arbeitskämpfe. Die jüngste Kampagne der Mittelstands- und Wirtschaftsunion, der Arbeitgeberverbände und der Springer-Presse hat das Streikrecht ins Visier genommen. Streiks in der »kritischen Infrastruktur«, ein Begriff aus dem Katastrophenschutz und der Geopolitik, sollen eingeschränkt werden.
Doch die Gewerkschaften sehen sich nicht nur derartigen Angriffen gegenüber. Auch das Umfeld hat sich fundamental verändert. Der Anlass für die Profitinflation war der Russland-Ukraine-Krieg. Viele Unternehmen wappnen sich heute darum auch für neue geopolitische Risiken, brüchige Lieferketten und lokale Auswirkungen des Klimawandels. Auch die Gewerkschaften sollten sich auf das beunruhigende Gedankenexperiment einlassen, dass weitere katastrophische Ereignisse wie militärische Konflikte oder Ernteausfälle, die Preisstabilität erneut gefährden könnten.
Es kommt jetzt darauf an, sich gewerkschaftspolitisch gegen Risiken abzusichern. Denn: Lange Laufzeiten von Tarifverträgen können bei weiteren inflationären Schocks zum Eigentor werden. Regelungen wie Ausstiegsklauseln aus einem Tarifvertrag im Falle ungeahnt hoher Inflationsraten, wie sie bei den Streiks an den Nordseehäfen im vergangenen Sommer erkämpft wurden, könnten Abhilfe schaffen. Die Voraussetzung für solche Forderungen bildet eine starke Mitgliederbasis und eine hohe Durchsetzungs- und Streikfähigkeit. Die aktuellen Tarifrunden haben gezeigt, dass diese geschaffen werden können.
Stefan Schmalz ist Forschungsgruppenleiter an der Universität Erfurt und leitet das Projekt »Streikmonitor«.