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02. Juni 2025

Boris Pistorius steht für die Entkernung der SPD

Mit Boris Pistorius avanciert ein konservativer Sozialdemokrat, der Deutschland kriegstüchtig machen will, zum Schwergewicht der SPD. Das sagt mehr über die Partei als über den Verteidigungsminister selbst.

Verteidigungsminister Boris Pistorius bei einem Truppenbesuch, 16. März 2025.

Verteidigungsminister Boris Pistorius bei einem Truppenbesuch, 16. März 2025.

IMAGO / Steinsiek.ch

Boris Pistorius ist in aller Munde. Wer derzeit über die SPD spricht, landet schnell bei dem Mann, der gerne im Feldanzug posiert und martialische Klartexte von sich gibt. Seit seiner Ernennung zum Bundesverteidigungsminister im Januar 2023 hat sich Pistorius vom vergleichsweise unbekannten Innenminister Niedersachsens zum beliebtesten Politiker Deutschlands gemausert – ausgerechnet in einem Ressort, das seit Jahrzehnten eher als Schleudersitz denn als Karrieresprungbrett gilt.

Der rasante Aufstieg eines Mannes, dessen autoritäre Performance kaum zum Selbstverständnis einer Partei passt, die sich einst »Frieden, Gerechtigkeit und internationale Solidarität« auf die Fahnen geschrieben hatte, ist vor allem auch ein weiteres Symptom der ideologischen Entkernung der SPD.

Autoritäre Sozialdemokratie

Pistorius verkörpert einen Typus Politiker, den es in der SPD immer gegeben hat – aber der in jüngster Zeit einen Aufschwung erlebt: den autoritär gepolten Pragmatiker mit Sicherheitsfokus. Sein politischer Habitus speist sich aus traditionellen Vorstellungen von Ordnung und Disziplin angereichert mit einer Performance robuster Männlichkeit.

Boris Pistorius, geboren 1960 in Osnabrück, ist ein Produkt der klassischen sozialdemokratischen Provinz – verwurzelt, erfahren, aber lange unterschätzt. Über Jahrzehnte baute er sich ein politisches Fundament in Niedersachsen auf: als Verwaltungsjurist, Bürgermeister von Osnabrück und schließlich Innenminister des Landes. Pistorius geriet 2012 in die Kritik, weil er als Oberbürgermeister großzügig Leistungsprämien an städtische Angestellte ausgezahlt hatte. Dies geschah »im offenkundigen Widerspruch zu seiner eigenen Rhetorik vom ›Konzern Osnabrück‹«, wie es ein Kommentar formulierte. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage gegen Pistorius – als einzigen aus einer Reihe von Oberbürgermeistern, die ähnlich gehandelt hatten. Die Vergabe der Prämien war juristisch umstritten, aber Pistorius verwies darauf, dass diese Teil des Besoldungssystems seien und er die Rechtslage auf seiner Seite habe. Die Angelegenheit wurde politisch diskutiert, führte aber letztlich nicht zu einer nachhaltigen Schädigung seines Rufs.

»Kritiker warfen ihm schon damals vor, rechte Diskurse zu befeuern, statt zu hinterfragen.«

Während seiner Zeit als niedersächsischer Innenminister wurde Pistorius im Zuge des sogenannten BAMF-Skandals (Unregelmäßigkeiten bei Asylentscheidungen in der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge) vorgeworfen, Hinweise auf Missstände nicht ausreichend verfolgt zu haben. Konkret ging es um eine E-Mail mit brisanten Informationen, die Pistorius zwar an sein Ministerium weiterleitete, die dort aber verschlampt wurde. Pistorius gestand den Fehler ein, wies aber den Vorwurf der Vertuschung zurück.

In dieser profilierte sich Pistorius mit einer harten Linie gegen Islamismus, Clankriminalität und Migration – stets unter dem Deckmantel sozialdemokratischer Verantwortung. Er sprach sich gegen ein generelles Kopftuchverbot aus, ließ aber regelmäßig öffentlichkeitswirksame Polizeirazzien durchführen. Kritiker warfen ihm schon damals vor, rechte Diskurse zu befeuern, statt zu hinterfragen.

Bundesweite Bekanntheit erreichte er erst, als er 2019 gemeinsam mit Petra Köpping für den SPD-Vorsitz kandidierte. Er unterlag – doch mit seiner Kandidatur wurde er zum innerparteilichen Schwergewicht, vor allem im konservativen Lager.

Zeitenwende in der deutschen Sozialdemokratie

Als Olaf Scholz Anfang 2023 einen neuen Verteidigungsminister brauchte, fiel die Wahl auf Pistorius. Der Moment war historisch: Der russische Überfall auf die Ukraine hatte Deutschland sicherheitspolitisch wachgerüttelt. Pistorius setzt als Verteidigungsminister auf klare Kante gegenüber Russland, offensive Waffenlieferungen in die Ukraine und ist zuletzt vor allem mit seiner Forderung nach einem »neuen Wehrdienst« in Erscheinung getreten. Seine Haltung zur Freiwilligkeit der Wehrpflicht offenbart die charakteristische Ambivalenz eines Pragmatikers, der zwischen politischer Realität und militärischer Notwendigkeit navigiert.

Der Verteidigungsminister betont zwar öffentlich das Prinzip der Freiwilligkeit, doch seine Rhetorik lässt durchscheinen, dass er diese weniger als unverrückbares Dogma als gegenwärtige Zweckmäßigkeit begreift. Pistorius’ wiederholte Betonungen der »Attraktivität« des Wehrdienstes und seine Reformbemühungen zur Stärkung der Bundeswehr deuten darauf hin, dass er die Freiwilligkeit als Testballon versteht – ein Experiment, dessen Erfolg über die künftige Ausrichtung der deutschen Verteidigungspolitik entscheiden wird. Seine vorsichtigen Formulierungen zu einer möglichen Rückkehr zur Wehrpflicht bei veränderten sicherheitspolitischen Lagen lassen vermuten, dass er die aktuelle Freiwilligkeit durchaus als vorläufig ansieht – eine Lösung auf Zeit, die bei Bedarf justiert werden kann.

»Pistorius’ Erfolg stellt auch ein Versagen der SPD dar: Die Partei hat keine kohärente Antwort auf sicherheitspolitische Herausforderungen.«

Pistorius gefällt sich in der Rolle des »wehrhaften Demokraten« – doch seine Demokratieauffassung bleibt dabei auffällig staatstreu, institutionenfixiert und militarisiert. Kaum im Amt reiste Pistorius zur Ukraine-Konferenz nach Ramstein, traf US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, besuchte Truppen in Augustdorf. Die Symbolik war klar: Dieser Mann bleibt nicht im Büro sitzen. Er will »anpacken«. Und tatsächlich: Pistorius trieb Panzerlieferungen voran, besuchte die Ukraine mehrfach und verteidigte das Konzept einer »kriegstüchtigen Bundeswehr«.

Er gilt als treibende Kraft hinter der Modernisierung der Streitkräfte. Zwei Drittel des Sondervermögens von 100 Milliarden Euro wurden unter seiner Ägide verplant, zentrale Beschaffungsprojekte beschleunigt. Die Truppe lobt ihn für seine klaren Worte, Soldatinnen und Soldaten fühlen sich gehört.

Pistorius vernachlässigt zivilgesellschaftliche Debatten, er handelt lieber direkt. Seine Kommunikation ist militärisch geprägt, seine politischen Entscheidungen technokratisch: Verteidigung als Verwaltung, nicht als demokratischer Aushandlungsprozess.

Rhetoriker der Militarisierung

Pistorius’ Rhetorik unterscheidet sich deutlich von seinen Vorgängern. Wo Christine Lambrecht durch Unsicherheit auffiel, wo Annegret Kramp-Karrenbauer distanziert blieb, zeigt Pistorius Souveränität und Nähe – zur Truppe, zu den Medien, zur Bevölkerung. Er redet in klaren Sätzen, benennt Mängel offen. Sein Auftreten wirkt authentisch.

Medien feiern ihn als »Minister zum Anfassen«. Bilder von Kantinenbesuchen, Truppenübungen und Gedenkzeremonien prägen sein Image. Doch diese Nahbarkeit hat eine Kehrseite: Sie tarnt, dass der »Kümmerer« Pistorius einen sicherheitspolitischen Paradigmenwechsel mitgestaltet, ohne einen gesellschaftlichen Diskurs darüber zu fördern. Die Zeitschrift Die Zeit nannte ihn 2023 spitz den »Ankündigungsminister«. Pistorius polarisiert: Für Linke ist er ein Kriegstreiber, für Konservative ein Symbol der Stärke, für die NATO ein verlässlicher Partner.

Kritiker werfen ihm vor, Deutschland zu tief in einen Stellvertreterkrieg zu verwickeln. Pistorius geht bei solchen Vorwürfen direkt in die Offensive: In einer Bundestagsdebatte bezeichnete er AfD und Linke als »fünfte Kolonne Moskaus« – eine Aussage, die nicht nur Applaus, sondern auch Empörung erntete. Noch gelingt es ihm, eine Balance zwischen harten Ansagen und einer Vermeidung einer weiteren militärischenEskalation zu halten – doch sie bleibt fragil.

Die SPD auf der Suche

Der Aufstieg Pistorius’ fällt nicht zufällig in eine Phase, in der die SPD auf Bundesebene kaum noch erkennbar ist. Olaf Scholz – ohnehin Kanzler der Schweigsamkeit – hat in sicherheits- und außenpolitischen Fragen kaum eigene Akzente gesetzt. In dieser Leerstelle wirkte Pistorius von Beginn an wie ein Mann, der liefert: sichtbar, laut, entschlossen.

Doch was auf den ersten Blick wie Führungsstärke aussieht, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als autoritärer Substanzverlust. Pistorius steht eben nicht für sozialdemokratische Sicherheits- oder Friedenspolitik, sondern für ihre Umkehrung.

Die »Zeitenwende«, die Scholz ausrief, wurde durch Pistorius zur »Kriegstüchtigkeit« operationalisiert. Eine strategische Debatte über zivile Konfliktprävention, Abrüstung oder Rüstungskonversion? Fehlanzeige. Stattdessen wird in der SPD längst darüber spekuliert, ob Pistorius nicht der bessere Kanzlerkandidat wäre – ein starkes Indiz für den ideellen und intellektuellen Ausverkauf der Partei.

»Er lobt die Bundeswehr, kritisiert die Bürokratie, aber vermeidet die soziale Frage: Wer wird eigentlich Dienst leisten müssen, wenn es eine Dienstpflicht gibt?«

Innerhalb der SPD ist Pistorius eine Ausnahmefigur. Er genießt Respekt, aber nicht bedingungslose Loyalität. Vor allem der linke Parteiflügel sieht ihn kritisch. Jusos und Parteilinke werfen ihm vor, sicherheitspolitische Grundsätze über Bord zu werfen und einen »militärischen Machismus« zu kultivieren. Die Wehrdienstdebatte wurde von Juso-Chef Philipp Türmer als »Scheindebatte« abgetan.

Doch Pistorius’ Erfolg stellt auch ein Versagen der SPD dar: Die Partei hat keine kohärente Antwort auf sicherheitspolitische Herausforderungen. Pistorius füllt diese Leerstelle – mit einem Kurs, der militärisch und pragmatisch ist, aber wenig sozialdemokratisch.

Dass er 2024 kurzzeitig als Kanzlerkandidat gehandelt wurde, spricht Bände. Eine SPD, die nicht mehr an politische Inhalte, sondern an Popularität glaubt, ist nicht in der Lage, glaubwürdige Alternativen zu formulieren. Pistorius steht dabei nicht nur für Stärke – sondern für den ideologischen Bankrott einer Partei, die ihre friedenspolitische DNA aufgibt.

Brüchige Traditionen

Zwar war die SPD nie eine pazifistische Partei. Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder standen jeweils für sehr unterschiedliche sicherheitspolitische Ansätze – aber alle suchten den politischen Diskurs über Krieg und Frieden in der Gesellschaft. Boris Pistorius hingegen spricht von Wehrhaftigkeit und Bündnistreue, aber nicht von Entspannung oder Abrüstung. Er gibt sich als Mann des Volkes – aber sein sicherheitspolitisches Weltbild bleibt elitär und technokratisch. Er lobt die Bundeswehr, kritisiert die Bürokratie, aber vermeidet die soziale Frage: Wer wird eigentlich Dienst leisten müssen, wenn es eine Dienstpflicht gibt?

Wer Pistorius kritisiert, wird oft als »Putinversteher« abgetan. Dabei gibt es durchaus fundierte Einwände – aus der Friedensbewegung, aus der kritischen Wissenschaft, aus der SPD-Basis. Doch in der SPD-Führung wird diese Kritik kaum noch gehört. Die Partei, die auf der Suche nach einer politischen Autoritätsfigur ist, hat sich offenbar damit arrangiert, dass Pistorius diese Lücke füllt – solange die Umfragen stimmen.

»Die Modernisierung, die Pistorius voranbringen will, ist tatsächlich eine Entkernung.«

Boris Pistorius ist kein Sozialdemokrat alter Schule. Er ist ein politisches Produkt der Post-Agenda-SPD: effizient, durchsetzungsfähig, medientauglich – aber ideologisch entkernt. Er funktioniert in einem medialen Klima, das Stärke mit Härte verwechselt, Verantwortung mit Aufrüstung. Dass ausgerechnet ein Verteidigungsminister zur letzten Integrationsfigur der Sozialdemokratie wird, sagt mehr über den Zustand der SPD aus als über Pistorius selbst. Sein Erfolg basiert nicht auf einem sozialdemokratischen Aufbruch, sondern auf einer autoritären Sehnsucht, die viele – auch links der Mitte – zunehmend akzeptieren.

Boris Pistorius ist der populärste Minister einer von Beginn an unpopulären Regierung. Er ist der militäraffine Hoffnungsträger einer Partei ohne sicherheitspolitisches Profil. Sein Aufstieg offenbart den Verlust einer sozialdemokratischen Leitkultur, die einst Frieden, soziale Sicherheit und internationale Ausgleichspolitik miteinander verband.

Die Modernisierung, die Pistorius voranbringen will, ist tatsächlich eine Entkernung. Der Niedersachse mag in der Stunde als militärischer Krisenmanager überzeugen. Doch als sozialdemokratisches Vorbild taugt er nicht. Er ist ein Mann des Moments, nicht der Idee. Eine SPD, die an Personen statt an Prinzipien glaubt, vergisst, dass Sicherheit nicht durch Waffen entsteht. Der Applaus für Pistorius ist deshalb kein Beleg für Stärke. Er ist ein Alarmsignal.