24. Juni 2022
Lars Klingbeil will Deutschland nach 80 Jahren »Zurückhaltung« zu einer »globalen Führungsmacht« aufbauen. Klingt unangenehm, ist aber vor allem irreführend: denn die militärische Oberhand in Europa haben immer noch die USA.
Der SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil spricht von deutscher »Führungsmacht«, will aber vor allem das transatlantische Bündnis stärken.
Dank Putin definiert Deutschland seine Rolle in der Welt gerade neu. Der russische Angriffskrieg hat eine »Zeitenwende« eingeläutet – ein Begriff, der jetzt schon abgedroschen klingt, obwohl nicht einmal klar ist, was diese Wende für die sicherheitspolitische Zukunft der Bundesrepublik konkret überhaupt bedeutet.
Zur Klärung dieser Frage lud die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung Anfang der Woche zur Tiergartenkonferenz. Hohes Personal war geladen. Es sprachen unter anderem der SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil und die sozialdemokratische Verteidigungsministerin Christine Lambrecht.
Klingbeil leitete seine Rede über die Zeitenwende mit einem abgegriffenen Zitat Antonio Gramscis ein, der einmal sagte, die Krise sei eine Übergangszeit, in der das Alte schon gestorben, das Neue aber noch nicht geboren sei. Die Rede, die darauf folgte, war inhaltlich mindestens genauso erwartbar, wie das Zitat, das sie einläutete. Klingbeil redete davon, dass man sich nach dem Kalten Krieg in falscher Sicherheit gewähnt hätte. Der Sieg von Kapitalismus und liberaler Demokratie sei kein endgültiger gewesen. Anders als vom amerikanischen Autor Francis Fukuyama angenommen, war die Geschichte eben doch nicht zu Ende. Russland, aber vor allem China zeigen, dass das westliche Entwicklungsmodell nicht alternativlos sei. Mit Russland und China entstünden neue Machtzentren, die vor allem jene Staaten des Globalen Südens an sich binden würden, die »enttäuscht sind von den Verheißungen liberaler Demokratien«.
Was also tun? In schwammigem Polit-Sprech, den man in der SPD gut beherrscht, betonte Klingbeil, es müsse »darum gehen, Bindungskraft zu entfalten, neue politische Allianzen zu schmieden, partnerschaftliche Abkommen zu schließen, offene Strukturen anzubieten … die integrativ und nicht exklusiv sind. Die für alle Seiten einen Mehrwert haben«. Was das genau bedeuten soll, weiß niemand. Klar wird nur, dass man Russland und China irgendwie ihren Einfluss im Globalen Süden streitig machen müsse. All das klingt nach Systemkonkurrenz und Kaltem Krieg.
Etwas konkreter wird es im Bereich wirtschaftlicher Autonomie. Der Abschied von der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland ist bereits beschlossene Sache, aber auch von China müsse man »Abhängigkeiten in den Bereichen Medizin oder Technik abbauen«. Auch die SPD verabschiedet sich von der Globalisierung und ihren liberalen Versprechungen auf Frieden durch Handelsintegration.
Dann aber geht es ans sicherheitspolitische Eingemachte: »Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben«, sagt Klingbeil. »Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung« falle Deutschland nun eine neue Rolle in der internationalen Politik zu. Man muss nicht links von der SPD stehen, um 80 Jahre Zurückhaltung nach der entfesselten Barbarei der ehemaligen »Führungsmacht« Deutschland durchaus für unterstützenswert zu halten. Warum sollte es nicht noch mindestens 80 Jahre so weitergehen? Nach einer anderen Zeitenwende, nämlich dem Mauerfall, argumentierte schon Joschka Fischer, gegen jene Normalisierung des Nationalen, die sich auch in Klingbeils Rede ausdrückt: »In Deutschland 45 Jahre nach Auschwitz auf alles Nationale panisch zu reagieren, ist kein Anlaß zur Scham und Kritik, sondern eine überlebensnotwendige Demokratenpflicht für mindestens weitere fünfundvierzig Jahre.«
Von diesem Denken ist bei den Grünen und der SPD wenig übriggeblieben. Soldatensohn Klingbeil will, dass die Deutschen das Militärische vielleicht nicht wieder lieben, so aber doch respektieren lernen. Klingbeil wünscht sich, »dass wir als Gesellschaft eine neue Normalität mit der Bundeswehr entwickeln«. Für ihn bedeutet »Friedenspolitik, auch militärische Gewalt als Mittel der Politik zu sehen«. Fraglich, ob Klingbeil hier nicht absichtlich bereits offene Türen einrennt, um die von ihm ersehnte militärische Normalisierung zu erleichtern. Denn mittlerweile würden sich in Deutschland nur noch wenige Radikalpazifisten der Legitimtät von Verteidigungskriegen verschließen.
Führungsmacht, militärische Stärke, gesellschaftliche Integration der Bundeswehr – wem das alles zu wilhelminisch klingt, der sei beruhigt. Klingbeil geht es nämlich nicht um einen deutschen Platz an der Sonne. Er will vor allem »eine starke europäische Säule in der NATO« aufbauen. Genau das meint Klingbeil, wenn er von »Führungsmacht« spricht: »Die europäischen Staaten in der NATO sollten in Zukunft in der Lage sein, europäisches Territorium gemeinsam zu verteidigen. Das ist keine Politik gegen das transatlantische Bündnis, sondern eine Politik, die das Bündnis stärkt.«
In Paris dürfte man sich über Klingbeils Rede nicht allzu sehr freuen. Schließlich träumte man dort, zumindest bis zum Ukrainekrieg, noch von der »strategischen Souveränität« Europas – einem Europa also, dass aus sich selbst heraus verteidigungsfähig ist und die von den USA-geführte NATO dazu nicht braucht. Der russische Krieg gegen die Ukraine hat hingegen das Gegenteil bewirkt. Der Soziologe Wolfgang Streeck hat recht, wenn er konstatiert, dass der Krieg dazu geführt hat, dass die NATO – und damit die USA – seit der Invasion in Europa militärisch das Sagen haben. Wie die Beitrittsgespräche mit der Ukraine zeigen, kann die EU den europäischen Teil des Westens ökonomisch, juristisch und kulturell integrieren. Das militärische Primat aber hat Washington, wie es auch Klingbeil in seiner Rede glasklar ausdrückt. Im Ukrainekrieg sind es die USA, die Kiew mit den kriegsentscheidenden Waffen beliefern. Putins Krieg hat der NATO, die von Emmanuel Macron schon für »hirntot« erklärt wurde, neues Leben eingehaucht. Sogar Schweden und Finnland wollen jetzt unter ihren Schirm. Statt einer »strategischen Autonomie« Europas haben wir es vielmehr mit einer Revitalisierung der NATO zu tun. Dieses Europa wird sicherheitspolitisch, aber auch energiepolitisch noch abhängiger von den USA sein.
In seiner Rede vermittelt Klingbeil also eigentlich fast schon das Gegenteil von dem, was er auf den ersten Blick hin fordert. Statt glaubwürdig einen deutschen Führungsanspruch zu behaupten, ist diese Rede vielmehr ein Eingeständnis deutscher Schwäche. Russlands Angriff offenbart das Scheitern der deutschen Energiepolitik – und damit auch einer deutschen Außenpolitik, die den USA schon lange gegen den Strich ging. Mit dem Krieg gegen die Ukraine fliegt Deutschland die gefährliche Wette um die Ohren, die es unter Schröder und Merkel eingegangen ist, nämlich dass man billige Energie aus Russland einkaufen kann, ohne die imperialistischen Ambitionen eines Wladimir Putin zu nähren. Russlands Krieg bedeutet eher das Ende, nicht den Anfang eines deutschen Führungsanspruchs. Eine Zeitenwende zurück zur NATO – und damit eine Rehabilitierung der bröckelnden US-Hegemonie.
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Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.
Daniel Marwecki arbeitet im Department of Politics and Public Administration der University of Hong Kong. Er hat zuvor in England promoviert und gelehrt.