11. Januar 2023
Seit Jahrzehnten hat die Klimabewegung die Argumente auf ihrer Seite. Die Räumung von Lützerath zeigt: Mit Diskurshoheit allein gewinnt man nicht.
Die Polizei bereitet am Vorabend die Räumung vor, Lützerath, 10. Januar 2020.
IMAGO / xcitepressDie Räumung von Lützerath hat heute, am Mittwochmorgen, den 11. Januar begonnen. Es ist ein Beispiel von vielen. Die Tatsache, dass Lützerath durch einen Hinterzimmerdeal zwischen den Grünen und RWE für mehr Braunkohle geopfert werden soll, reiht sich nahtlos in ein altbekanntes Schema ein: Dort, wo das Kapital seine Interessen verfolgt, gelten andere Regeln. Argumente, die auf Vernunft fußen, werden irrelevant.
Dafür gibt es zahlreiche Beispiele, etwa die Begründung der Regierung, das 9-Euro-Ticket könne nicht weiter finanziert werden, während 100 Milliarden für die Bundeswehr aus dem Ärmel geschüttelt wurden. Oder die Tatsache, dass beim Bau der neuen LNG-Terminals Regularien einfach umgangen werden können und der Bau in atemberaubender Geschwindigkeit und Überkapazität erfolgt. All diese Entscheidungen werden von den Grünen mitgetragen, was zwar enttäuschend und heuchlerisch, aber letztlich nicht verwunderlich ist. Die Grünen reden zwar gerne von der 1,5-Grad-Grenze, um sie auch einzuhalten, wollen sie sich aber weder mit Großkonzernen anlegen noch den Koalitionsfrieden aufgeben.
Insbesondere für Fridays for Future ist die Erkenntnis bitter, dass genau die Partei, die von der Bewegung indirekt unterstützt wurde, diese Entscheidungen trifft. Als die Bewegung am Sonntag in Lützerath zum letzten großen Dorfspaziergang zusammenkam, war auch eine große Delegation der Grünen Jugend vor Ort, um ihre Solidarität zu bekunden. Jenseits des Symbolischen bedeutet das wenig. Der linke Flügel der Grünen kann sich seit Jahren machtpolitisch nicht durchsetzen. Wenn auch knapp, hat sich der grüne Parteitag zuletzt für die Abbaggerung von Lützerath und damit gegen die Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze entschieden.
Seit Jahrzehnten ist der Klimabewegung argumentativ wenig entgegenzusetzen. Die Fakten sprechen für sich. Spätestens seit der ersten Weltklimakonferenz 1995 in Berlin berät die Wissenschaft die Politik und ist durchweg auf der Seite der Bewegung. Die Klimakrise ist das Ergebnis von jahrhundertelanger, gewaltvoller, kolonialer Ausbeutung von Menschen, Land und Ressourcen des Globalen Südens durch die Staaten und Konzerne des Globalen Nordens. Der Anerkennung und Abschaffung dieser Verhältnisse steht vor dem Hintergrund der globalen Gerechtigkeit offensichtlich nichts entgegen.
Auch die Vision einer sozial-ökologischen Wende mit sauberer Luft, ruhigeren Straßen, mehr Mobilität auf dem Land und grüneren Städten wird seit Jahren erzählt, und sie ist auch überzeugend. Seit 2021 steht sogar das Bundesverfassungsgericht, eine der politischen Institutionen mit dem meisten Vertrauen im Land, hinter der Klimabewegung: Es entschied, dass das Klimapaket von 2019 teilweise nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Die Klimabewegung hat also alle Argumente hinter sich, doch wenn Lützerath eines zeigt, dann dass sich die Bewegung, insbesondere Fridays for Future, von der Vorstellung verabschieden muss, dass man allein mit guten Argumenten gewinnen kann. Denn seitdem Fridays for Future 1,4 Millionen Menschen mobilisierte und den öffentlichen Diskurs auch maßgeblich veränderte, hat man Zugang zur Macht mit Macht an sich verwechselt. Diese gefühlte Ermächtigung führte dazu, dass die Bewegung der letzten vier Jahre immer daran glaubte, dass man nur in genug Talkshows, auf genug Demos, in genug Politikergesprächen, die oben aufgezählten Argumente immer wieder schlagfertig anführen müsse. Mit einer Mischung aus Überzeugungskraft, Großmobilisierungen und der Hoffnung auf Einsicht der Regierenden hoffte man, Veränderung bewirken zu können.
Doch Robert Habeck hat sich nicht bloß »verrechnet«, wie Luisa Neubauer und Pauline Brünger in der Taz schreiben. RWE hat für ihn die Rechnung gemacht. Denn es geht nicht um das bessere Argument, es geht um Macht. Und um politische Kompromisse, die das Geschäft sichern.
Wenn die Bewegung das nicht hier in Lützerath begreift, dann wird sie es nie begreifen. Hier in Lützerath verläuft die 1,5-Grad-Grenze und hier zeigt sich gerade, wie viel Kraft die Bewegung noch hat – nach einem Jahr Ampel, schrumpfenden Protestzahlen und einer monatelangen medialen und politischen Hetzkampagne samt Kriminalisierung. Die Grünen werden die Bewegung immer wieder verraten und die einzige Antwort darauf ist der Aufbau von Gegenmacht.
Ein Ansatzpunkt ist Lützerath auch deswegen, weil so viele Klimagruppen, die sich strategisch zuletzt stark auseinander dividierten, hier wieder an einem Punkt zusammenfinden. Ironischerweise könnte der Angriff der Regierung deshalb nicht zur Schwächung der Bewegung – an der in Lützerath ein Exempel statuiert werden soll – führen, sondern ihr zu neuer Stärke verhelfen.
Akzeptiert man diese Analyse, kommt man letztlich zu zwei Schlüssen: Zum einen reicht Diskurshoheit allein nicht aus. Nur wer Machtverhältnisse angreift und verändert, kann den Klimaschutz voranbringen. Das benötigt eine größere Organisierung als bisher. Und zum anderen muss die Klimabewegung diese Organisierung ins Zentrum ihrer Analyse und Praxis stellen. Sie muss verstehen, dass sie Parteien nicht vom Handeln überzeugen muss, sondern sie zum Handeln zwingen muss. Wie genau das geschehen kann, darüber braucht es eine gemeinsame strategische Verständigung. Jetzt ist der Zeitpunkt, um diese Bewegung aufzubauen. Denn uns läuft die Zeit davon.
Lucas Wermeier studiert Philosophie und Soziologie an der Universität Göttingen und ist aktiv bei End Fossil. Occupy! und Fridays for Future.
Johannes Bosse studiert Physik an der RWTH Aachen und ist in der Klimagerechtigkeitsbewegung aktiv.