25. Dezember 2024
Der Marxismus gilt gemeinhin als antireligiös. Der Philosoph Alasdair MacIntyre sieht hingegen Überschneidungen: Christentum und Marxismus haben in der Menschheit immer wieder ein radikales Gefühl der Hoffnung auf eine gerechtere Welt geweckt.
Zwei Weihnachtsikonen
»Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elends und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« Karl Marx
Dass Karl Marx Atheist war, dürfte bei seinen Anhängern als auch seinen Feinden weitgehend bekannt sein. Selbst Außenseiter wie ich, die nicht den ganzen Tag ungeduldig auf David Harveys neuestes Buch über die Grundrisse warten, kennen Marx’ berühmte Beschreibung der Religion als »Opium des Volkes«. Viele marxistisch geprägte Persönlichkeiten und Bewegungen, von Wladimir Lenin bis zum französischen Sozialismus, hatten ebenfalls eine schlechte Meinung vom Glauben und seinen Traditionen. Marxistinnen und Marxisten betrachteten Institutionen wie die katholische Kirche – oft zu Recht! – als Bollwerke der Reaktion, die sich im allerbesten Fall an modernere Vorstellungen von Gleichstellung und Freiheit angenähert hatten.
Die historische Beziehung des Marxismus zur Religion ist aber weitaus vielschichtiger. So reicherten lateinamerikanische Linke die Lehre der katholischen Kirche mit Befreiungstheologie an, und der Theologe Paul Tillich appellierte an die Menschen, sie müssten den Mut aufbringen, auf den Sozialismus hinzuarbeiten. In den USA haben bekannte Schwarze Linke, von Martin Luther King Jr. bis Cornel West, in ihren Reden sowohl auf sozialistische Traditionen als auch auf die Bibel zurückgegriffen. Zeitgenössische linke Intellektuelle wie Terry Eagleton und Reverend Angela Cowser setzen diese Tradition des Dialogs und der Kritik fort.
Der bedeutende schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre ist eine überaus faszinierende Figur in diesem Spannungsfeld von Marxismus und Christentum. MacIntyre ist für die heutige angloamerikanische Rechte von enormer Bedeutung und hat unzählige »postliberale« und sozialkonservative Intellektuelle beeinflusst, die sich von seiner düsteren bis geradezu apokalyptischen Kritik an der liberalen Moderne angezogen fühlen (obwohl es den meisten von MacIntyres Fans an seiner intellektuellen Raffinesse sowie nachhaltigen Verachtung für die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus mangelt). Aus MacIntyres Sicht hat die moderne Gesellschaft Recht und Unrecht zu einer Frage des persönlichen Geschmacks gemacht. Dadurch sei die Menschheit orientierungslos, nihilistisch und ohne jegliches Gespür dafür, welche Ziele es wert sind, im Leben verfolgt zu werden. Ohne ein solches teleologisches Gespür dafür, welche Ziele verfolgens- und erstrebenswert sind, geben sich viele letztlich einem individualistischen Konsumismus und der Vereinzelung hin oder sie lassen sich von destruktiven Formen des »Willens zur Macht« im nietzscheanischen Sinne leiten.
»MacIntyres kontroverse These lautet, dass der Marxismus dem Christentum keineswegs feindlich gesinnt sei, sondern vielmehr ›bestimmte zentrale christliche Glaubenssätze vermenschlicht hat‹.«
Lange bevor MacIntyre intellektuelle Munition für den Kreuzzug konservativer religiöser Zeitschriften gegen vermeintlich existenzielle Gefahren wie Homosexualität lieferte, war er aber ein ebenso unkonventioneller wie interessanter marxistischer Denker. Sein Marxism and Christianity ist ein seltenes Juwel: ein erstklassiges Buch, das eigentlich den Status des (kleinen) Klassikers verdient, das aber von den späteren politischen Entwicklungen des Autors derart überschattet wurde, dass es bis heute viel zu wenig gelesen wird.
MacIntyres kontroverse These lautet, dass der Marxismus dem Christentum keineswegs feindlich gesinnt sei, sondern vielmehr »bestimmte zentrale christliche Glaubenssätze so vermenschlicht hat, dass sie eher ein säkularisiert-christliches Urteil über die säkulare Gegenwart darstellen als eine christliche Anpassung an diese Gegenwart«. In dieser Hinsicht nimmt MacIntyre die ähnliche Behauptung seines berühmten Gegenspielers Friedrich Nietzsche ernst, dass der Sozialismus seine moralischen Wurzeln im christlichen Egalitarismus und Humanismus habe. Doch MacIntyre geht noch weiter, indem er »säkularisiert-christliche« Ideen direkt in Marx’ Werk verortet.
Marx begann bekanntlich als Hegelianer. MacIntyre betont mehrfach, dass Hegel zutiefst am Christentum interessiert war: Er sah in der Bibel viele der Hauptthemen seiner Philosophie in symbolischer Form ausgedrückt. Zum Beispiel gehe es am Kern der Sache vorbei, wenn man den Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis durch den Menschen als ausschließlich sündhaften Akt versteht. Anstatt Adam und Eva einfach nur zu verfluchen und zu vertreiben, stellt Gott bedächtig und nachdenklich fest, dass der Mensch ihm gleich geworden ist, da er nun Gut und Böse erkannt hat – und deswegen nicht länger in seliger Unwissenheit im Garten Eden verweilen darf. Die Menschheit muss fortan eine eigene aktive Rolle im Weltgeschehen mit all seinen Dramen spielen.
Das ermöglichte uns Freiheit und Entfaltung, barg aber auch die Gefahr, dass wir uns von der Natur und dem Unumgänglichen entfremden. Religiöse Figuren wie Jesus – der Gottessohn, der ebenjene Freiheit und Unumgänglichkeit in seiner Person vereinte – symbolisierten die Möglichkeit, eine solche Entfremdung zu überwinden und Sinn zu stiften. Religiöse Symbole und Figuren können jedoch sehr schnell und unbedacht zu reinen Götzen werden, die nur um ihrer selbst willen angebetet werden, anstatt Sinnbilder für eine tiefere Wahrheit zu sein.
MacIntyre erklärt, dass Marx viele von Hegels Ideen aufgriff, sie aber in eine materialistischere, radikalere Richtung lenkte. In der Philosophie des Rechts hatte Hegel den monarchischen preußischen Staat als die höchste bisher erreichte Gesellschaftsform beschrieben; und verschiedene »rechte Hegelianer« verteidigten die Rolle des Christentums bei der Versöhnung der Massen mit dem Status quo. Aus Marx’ Sicht wurde damit die himmelschreiende Ungerechtigkeit des autokratischen Preußens – der massenhafte Einsatz konterrevolutionärer Gewalt, die allgegenwärtige Zensur, die weit verbreitete Ausbeutung und Verarmung der Arbeiterklasse – legitimiert und entschuldigt.
Für Marx wäre es jedoch zu plump gewesen, die Religion pauschal zu verteufeln. Schließlich gebe Religion den Menschen inmitten materieller Entbehrungen und politischer Entrechtung einen Sinn und würde so lange fortbestehen, bis die Grundbedürfnisse der Menschen endlich ausreichend befriedigt seien. Die Alternative wäre, zu akzeptieren, dass die meisten Menschen im Schweiße ihres Angesichts und unter aller Härte leben und sterben müssen, ohne dafür die Aussicht auf Belohnung oder auch nur Anerkennung zu erhalten.
MacIntyre drückt es so aus: »Die religiöse Vision und ihre Umwandlungen in der deutschen Philosophie entspringen der Gesellschaft: Damit [die Menschen] sich in der Erreichung der von ihnen angestrebten guten Gesellschaft selbst erfüllen und verwirklichen können, müssen sie selbst einer radikaleren Philosophie, einer Philosophie der sozialen Praxis, Platz machen. Doch die Gesellschaft ist gespalten: Wer soll [die Verhältnisse] ändern? Marx’ spätere Antwort scheint bereits in einer Beschreibung der Arbeiter durch, die er 1844 in Paris kennengelernt hat: Zwischen diesen Menschen sei Brüderlichkeit ›keine Phrase, sondern Wahrheit […], und der Adel der Menschheit leuchtet uns aus den von der Arbeit verhärteten Gestalten entgegen‹.«
MacIntyre stimmt der Sicht von Marx weitgehend zu. Er betont ebenfalls die Annahme, dass das Christentum bei der Aufrechterhaltung ungerechter sozialer Ordnungen mitwirke. Dies gelte »für einen Großteil der Religion, insbesondere für einen Großteil der Religion im 19. Jahrhundert«.
Leider gilt dies auch für einen Großteil des Christentums im 21. Jahrhundert. Viele religiöse Institutionen und Persönlichkeiten scheinen sich damit zufrieden zu geben, den Reichen und Mächtigen zu dienen, anstatt den Sanftmütigen und Armen, die doch das Erdenreich besitzen sollen. Selbst Christen, die den Status quo kritisieren, haben meist wenig zu sagen über wirtschaftliche Ausbeutung und die Umweltzerstörung, die unser Planet erleidet. Leute wie R. R. Reno, Redakteur der konservativen Zeitschrift First Things, sind beispielsweise der Meinung, dass es einen »Klassenkampf gibt, einen Krieg gegen die Schwachen«. Dieser manifestiert sich allerdings in der »Kampagne für die Homo-Ehe«, gegen die angekämpft werden müsse.
Klar: Das größte Problem der »Armen« ist nicht, dass sie arm sind, sondern die furchtbare Vorstellung, dass zwei Männer heiraten könnten.
MacIntyre betont jedoch auch, dass Religion nie ausschließlich eine reaktionäre oder versöhnende Rolle gespielt hat. Durch die Annahme eines transzendenten Ideals von Gerechtigkeit und Güte, mit dem die materielle Welt ständig verglichen wird, spielte die Religion »zumindest teilweise eine progressive Rolle, indem sie dem einfachen Volk eine Vorstellung davon gab, wie eine bessere Ordnung aussehen würde«.
Er kritisiert konservative Apologeten, die schnell mit Zitaten von Augustinus von Hippo aufwarten, um den Ausgebeuteten die leider, leider unvermeidlichen Unvollkommenheiten der Welt einzuhämmern. Diese Konservativen verbringen seiner Ansicht nach übermäßig viel Zeit damit, »das Christentum von seinem Erbe des Gnostizismus zu befreien« und sich in dieser Hinsicht für Gerechtigkeit im Hier und Jetzt einzusetzen, »machen sich aber weit weniger Gedanken darüber, was das Christentum von Personen wie Pontius Pilatus und Kajaphas geerbt hat«. Sie vergessen demnach auch, dass der Gründer des Christentums den Reichen befahl, alles, was sie haben, an die Armen zu geben; dass er seine Tage mit Sündern, Prostituierten und Dieben verbrachte; und dass er gebot: wie Gottes Wille im Himmel geschehe, so auch auf Erden. Jesus griff unerbittlich die Götzenverehrung an, deren Form die Religion immer wieder annahm – und ganz besonders tat er dies, wenn diese Verehrung mit der Verteidigung bestehender Machtverhältnisse einherging.
MacIntyre argumentiert, der Marxismus sei in vielen Aspekten von einem »kritischen christlichen Geist« beseelt und vermittele eine säkularisierte Form der »Hoffnung« für die Zukunft. Eine solch radikale Hoffnung ist genau das, was der »kapitalistische Realismus« leugnet. Laut diesem muss die gegenwärtige ökonomische und politische Ordnung ewig fortbestehen.
Doch diese radikale Hoffnung kann immer wieder neu entfacht werden, wenn »die Elenden der Erde lernen, dass Gott an ihrer Seite ist«.
Matt McManus ist Gastprofessor für Politik am Whitman College. Er ist der Autor von »The Rise of Post-Modern Conservatism and Myth« und Co-Autor von »Mayhem: A Leftist Critique of Jordan Peterson«.