05. September 2022
Der Ukrainekrieg erschüttert die globale Ordnung, die sich nach dem Kalten Krieg etabliert hat. Wie es soweit kommen konnte und wohin es in Zukunft gehen könnte, erklärt der Weltsystemtheoretiker Georgi Derluguian.
Einige Wochen nach Beginn der russischen Invasion der Ukraine ließ sich der milliardenschwere Investor und Buhmann der europäischen Rechten, George Soros, zu einem Meinungsbeitrag hinreißen. Darin schrieb er, von der neuen autoritären Allianz aus Russland und China ginge die Gefahr einer »globalen Katastrophe« aus, die »unsere Zivilisation zerstören« könnte, wenn Wladimir Putin und Xi Jinping nicht bald gestürzt würden.
Bald darauf sprach auch Wolodymyr Selenskyj in einem Interview davon, dass der Krieg in seinem Land zu einem »Dritten Weltkrieg« eskalieren könnte. Als hätte sie sich herausgefordert gefühlt, rief dann Olga Skabejewa, eine der bekanntesten russischen TV-Propagandistinnen, ihren Präsidenten offen dazu auf, die »militärische Spezialoperation« in der Ukraine zu einem globalen Konflikt mit dem Westen auszuweiten.
Seit dem Ende der Blockkonfrontation hat es etliche Kriegsausbrüche gegeben – aber keiner hat so wie Russlands jüngster Angriff Ängste vor einem drohenden globalen Konflikt geschürt. Erleben wir gerade den Beginn eines neuen Kalten Krieges – oder sogar des Dritten Weltkriegs? JACOBIN hat mit Georgi Derluguian, einem führenden Wissenschaftler auf dem Gebiet der Weltsystemtheorie, über historische Parallelen und die geopolitischen Auswirkungen dieses Krieges gesprochen.
Der Krieg in der Ukraine scheint vieles mit dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gemein zu haben. Historiker wie Dominic Lieven und Timothy Snyder behaupten, dass jene Kriege ebenfalls um die Ukraine geführt wurden. Inwieweit kann bei dem aktuellen Konflikt von einem »Weltkrieg« gesprochen werden?
Wir sollten uns zunächst klar machen, dass der Ausdruck »Weltkrieg« erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts gebräuchlich wurde – als der Erste Weltkrieg geführt wurde, war er noch nicht als solcher bekannt. Aber »imperialistisch« war bereits ein analytischer Begriff. Der Kapitalismus erlaubte die Existenz mehrerer konkurrierender Großmächte von ungefähr gleicher Größe, was einen Weltkrieg überhaupt erst möglich machte. In der Antike hätte es zwischen dem Römischen Reich und den es umgebenden Königreichen keinen »Weltkrieg« geben können.
Der Kapitalismus wurde im 16. Jahrhundert in Westeuropa nur deshalb möglich, weil er sich dort militärisch gegen die bisherigen Formen der imperialen Herrschaft behaupten konnte. Bereits in der Bronzezeit, im 21. Jahrhundert vor Christus, machten die Kaufleute umfangreiche Geschäfte, betrieben Kredit- und Karawanenhandel. Und es gab alle paar hundert Jahre einen Versuch, ein Monopol legitimer Gewalt zu errichten, wie das Römische Reich oder die Han-Dynastie in China.
Die Dinge änderten sich erst um 1500 mit der Verbreitung von Feuerwaffen. Die katholisch-protestantischen Kriege des folgenden Jahrhunderts wurden in Europa und auf den Weltmeeren ausgetragen, von Japan und Indonesien bis Brasilien. Das war bereits ein echter »Weltkrieg« in dem Sinne, dass alle bedeutenden Mächte daran beteiligt waren.
Der zweite »Weltkrieg« war dann die Serie britisch-französischer Kriege im 18. Jahrhundert. Was diese Kriege auslöste, war immer, dass jemand ein Imperium zu errichten versuchte, das den Kapitalismus verschlungen hätte. Kapitalisten fürchten eine Welt, in der es nur ein einziges Imperium gibt, denn sie wissen, dass sie dann wehrlos sind. Dieser Krieg fand nur noch zwischen dem französischen und dem britischen Kapital statt, weil sich das einstige kapitalistische Pionierland Holland trotz all seiner frühen Erfolge als zu klein erwiesen hatte. Es war eine typische Situation, in der sich eine untergehende Hegemonialmacht an eine aufstrebende dranhängte: Holland an Großbritannien, wie später Großbritannien an die USA.
Napoleons Krieg war das Ergebnis von Revolutionen: der Amerikanischen Revolution, der Irischen Revolution und der Französischen Revolution selbst. Frankreich verbreitete dann die Revolution rund um den Globus, wogegen sich Großbritannien wehrte.
Es ist immer eine kapitalistische Koalition im Entstehen begriffen. In der ersten Phase ist der Krieg nicht sehr heftig, es handelt sich eher um Diplomatie mit anderen Mitteln. Aber in der zweiten Phase steht mehr auf dem Spiel und auf der Verliererseite tauchen Führer auf wie Philipp II, Napoleon und natürlich Hitler. Ich sage nicht, dass Putin heute dasselbe ist wie Hitler oder Napoleon, aber sie alle spielen das gleiche Spiel: Sie erheben ihr Land von den Knien und starten einen gewagten Angriff.
Was ich mit diesem Ritt durch die Geschichte einfach nur sagen will: Der aktuelle Konflikt ist nicht der Dritte Weltkrieg, sondern wenn, dann der vierte oder vielleicht sogar der achte.
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Georgi Derluguian ist Professor für Sozialforschung an der New York University Abu Dhabi. Seine jüngste deutschsprachige Veröffentlichung ist der von ihm mitherausgegebene Band Stirbt der Kapitalismus? Fünf Szenarien für das 21. Jahrhundert (Campus, 2019).