04. Mai 2022
Kürzlich wurde bekannt, dass der Supreme Court das Recht auf Abtreibung abschaffen könnte. Es sollte klar sein, was die Demokraten jetzt tun müssen: den Supreme Court umgehen und ein landesweit geltendes Recht auf Abtreibung fordern.
In den USA demonstrieren Tausende für das Recht auf Abtreibung – wie hier am 3. Mai 2022 in Houston, Texas.
Anmerkung der Redaktion: Ein geleakter Entwurf aus der Feder des von US-Präsidenten George W. Bush berufenen Bundesrichters Samuel Alito, der allem Anschein nach die Mehrheitsmeinung von fünf der sechs konservativen Richterinnen und Richter am Supreme Court widerspiegelt, deklariert die 49 Jahre alte Entscheidung im Fall »Roe v. Wade« zum Fehlurteil. Die Echtheit des Dokuments wurde inzwischen vom Gericht selbst bestätigt. Bei der Interpretation der äußerst vagen US-Verfassung ist der Supreme Court üblicherweise bemüht, den Anschein der Wahrung von Präzedenzfällen aufrechtzuerhalten. Eine Entscheidung, wie sie aus dem geleakten Entwurf hervorgeht, ist äußert selten. Die drei liberalen Richterinnen und Richter arbeiten offenbar an Minderheitenmeinungen, die Position des vorsitzenden Richters Roberts ist noch unklar.
Es sieht so aus, als könnten Abtreibungen in der Hälfte der Bundesstaaten der USA schon in wenigen Wochen illegal werden. Der Tageszeitung Politico wurde ein Entwurf der bevorstehenden Entscheidung des Obersten Gerichtshofs zugespielt. Darin argumentiert der Richter Samuel Alito, dass die Entscheidung »Roe v. Wade« aus dem Jahr 1973 ein Recht auf Abtreibung in der Verfassung verankert habe, das dort nie gestanden hätte. Die Entscheidung würde sowohl »Roe v. Wade« als auch den Fall »Planned Parenthood v. Casey« aus dem Jahr 1992, der das eingeführte Recht auf Abtreibung bestätigte, außer Kraft setzen. Im ganzen Land sind nun Demonstrationen zur Verteidigung des Abtreibungsrechts vor Bundesgerichten geplant.
Die endgültige Entscheidung im Fall »Dobbs vs. Jackson Women’s Health Organization« wird nicht vor Juni erwartet, doch wenn der durchgesickerte Entwurf Bestand haben sollte, könnten einzelne Bundesstaaten Abtreibungen künftig verbieten – und mindestens die Hälfte wird das wahrscheinlich auch tun. In einem Dutzend Staaten gelten bereits sogenannte Auslösegesetze (»trigger laws«), die Abtreibungen automatisch verbieten, sobald der Oberste Gerichtshof ihnen das erlaubt. 58 Prozent der Frauen in den USA im gebärfähigen Alter leben in Bundesstaaten mit einer abtreibungsfeindlichen Gesetzgebung.
Hunderttausende Frauen und andere, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, werden durch diese Entscheidung also in Bundesstaaten reisen müssen, in denen der Eingriff legal ist. Oder aber sie werden gezwungen sein, sich heimlich Abtreibungspillen zu beschaffen oder den Eingriff im Verborgenen durchzuführen. Diejenigen, die sich diese Optionen nicht leisten können, werden ihre Schwangerschaften bis zum Ende austragen und gegen ihren Willen gebären müssen – das ist Folter. In Staaten, in denen Abtreibungen illegal sind, werden Ärztinnen und Ärzte, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, verhaftet, und diejenigen, die sie an ihrem Körper vornehmen lassen, werden verhört und inhaftiert, wenn sie sich weigern zu reden.
Oklahoma hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das für die Durchführung einer Abtreibung zehn Jahre Gefängnis und bis zu 100.000 Dollar Geldstrafe vorsieht.
Die Abtreibungsgegnerinnen und -gegner beteuern, sie würden Frauen, die abtreiben, niemals verhaften wollen. Ihnen gehe es lediglich um diejenigen, die den Eingriff ausführen – eine dreiste Lüge. Im März etwa wurde eine Frau in Texas wegen Mordes angeklagt, weil sie angeblich selbst eine Abtreibung vorgenommen hatte. Die Anklage wurde erst nach einem landesweiten Aufschrei fallen gelassen. In den letzten Jahrzehnten wurden in den Vereinigten Staaten etwa 25 Frauen wegen ihrer Fehlgeburten strafrechtlich verfolgt. Purvi Patel wurde vor ihrer Begnadigung zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie ihre späte Fehlgeburt verschwiegen hatte. Jennie Lynn McCormack aus Idaho wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie Abtreibungspillen genommen hatte. Sie legte Berufung ein und erreichte, dass sowohl ihre Verurteilung als auch das Gesetz gekippt wurden.
Fälle wie diese wurden in der Regel erst in der Berufung gewonnen, da die Mord- und Fetozidgesetze, die für die Verurteilung herangezogen wurden, für unangemessen befunden wurden. Das ist jedoch lediglich deswegen möglich, weil eine Abtreibung in den jeweiligen Bundesstaaten bisher nicht als Mord eingestuft werden konnte. Doch schon bald könnte es den Bundesstaaten freistehen, solche Anklagen gegen Ärzte und Patientinnen zu erheben.
Viele Befürworterinnen und Befürworter des Schwangerschaftsabbruchs glauben nun, dass Frauen in eine Zeit zurückversetzt werden, in der das Recht auf Abtreibung noch nicht durch das Urteil »Roe v. Wade« festgeschrieben wurde. Doch die Rechtslage der 1960er Jahre ist eigentlich kein besonders guter Vergleich für das, was wir künftig erleben werden: Die Vereinigten Staaten haben sich seither zu einem Polizeistaat mit Masseninhaftierungen und extrem hohen Strafen entwickelt. 33 Prozent der weiblichen Gefängnisinsassen der ganzen Welt befinden sich in den USA.
Nicht nur der Strafvollzug hat sich in den letzten Jahrzehnten ausgeweitet, auch die Medizin hat sich seit den 1960er Jahren weiterentwickelt: Damals starben noch schätzungsweise 5.000 Frauen pro Jahr an unsicheren illegalen Abtreibungen. Schwere Komplikationen waren so häufig, dass ganze Krankenhausabteilungen für verpfuschte Abtreibungen eingerichtet werden mussten.
Ärztinnen, die sich mit dem Thema Selbstabtreibung befassen, sagen, dass Frauen heutzutage viel seltener versuchen, mit scharfen Gegenständen, durch stumpfe Verletzungen oder Gift abzutreiben, weil Abtreibungspillen auf dem Schwarzmarkt und von ausländischen Anbietern immer leichter erhältlich sind. Außerdem hat die Behörde für Lebens- und Arzneimittel (Food and Drug Administration) vor kurzem die Auflagen für Abtreibungspillen gelockert, sodass diese sogar per Post aus Staaten, in denen sie legal sind, verschickt werden können.
Abtreibungspillen sind sicher, wirksam und werden derzeit bei mehr als der Hälfte der medizinisch überwachten Abtreibungen eingesetzt. Medizinisch gesprochen sind diejenigen, die Abtreibungspillen benötigen, also auf der sicheren Seite. Wovor sie jedoch nicht geschützt sind, sind abtreibungsfeindliche Gesetze und Staatsanwälte, die nur darauf aus sind, Frauen von der Verwendung der Pillen abzuhalten.
In dem durchgesickerten Entscheidungsentwurf schreibt Richter Samuel Alito: »Es ist an der Zeit, die Verfassung zu beherzigen und die Frage der Abtreibung wieder den gewählten Vertretern des Volkes zu überlassen.« Das klingt in der Theorie erst einmal gut, und Abtreibungsbefürworterinnen haben dieses Argument selbst bereits vorgebracht. Eine große Mehrheit in den USA (zwischen 60 und 72 Prozent) unterstützt »Roe v. Wade«. In einem funktionierenden Rechtssystem wären Abtreibungen also längst per landesweit geltendem Gesetz legalisiert worden. Aber das System ist marode.
In Erwartung einer Niederlage am Obersten Gerichtshof verabschiedeten die Demokraten im Repräsentantenhaus den »Women’s Health Protection Act«. Diese Gesetz kodifiziert die in »Roe v. Wade« aufgezählten Rechte. In einer anschließenden Senatsabstimmung wurde das Gesetz jedoch mit 46 zu 48 Stimmen abgelehnt. Die republikanische Senatorinnen Lisa Murkowski und Susan Collins, die angeblich für Abtreibungsrechte eintreten, stimmten gegen das Gesetz und begründeten ihre Ablehnung mit sprachlichen Mängeln. Doch selbst wenn sie dafür gestimmt hätten, hätten 41 Senatoren durch einen Filibuster alles verhindern können. Dazu müssen sie nicht einmal lange Reden halten.
Auch wenn man den Senat nicht ganz abschaffen kann – die meisten Demokratien haben ein Einkammersystem –, so sollte man jedoch die Filibuster-Regel abschaffen. Denn durch diese Regel kann die Partei, die gerade nicht an der Macht ist, das Abtreibungsgesetz als Geisel nehmen. Auch bei einer Reihe von anderen wichtigen Gesetzen ist das bereits geschehen, etwa bei der Gesetzgebung zum Klimawandel, zur Erhöhung des Mindestlohns oder bei Gewerkschaftsrechten.
Nachdem es den Demokraten im Senat nicht gelungen ist, die meisten der Gesetze zu verabschieden, die den von Konzernen ausgeplünderten und von rechtskonservativen Regierungen unterdrückten Gemeinschaften tatsächlich helfen würden, versuchen sie nun, mit dem Thema Abtreibung Wahlkampf für die anstehenden Zwischenwahlen (»midterm election«) zu machen. Doch selbst wenn massiver Protest der Bevölkerung in dieser Frage den Demokraten den Verbleib im Senat ermöglicht, hat ein Gesetz zum Schutz des Zugangs zur Abtreibung keine Chance, solange die Filibuster-Regel weiterhin besteht. Sie machen uns Versprechen für die Zukunft, die sie bereits heute nicht halten können. Es ist an der Zeit, dass die Demokraten die Demokratie verteidigen und den Schwangerschaftsabbruch im ganzen Land legalisieren.
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Jenny Brown ist Mitglied der National Women's Liberation und ehemalige Redakteurin bei »Labor Notes«. Sie ist Ko-Autorin von »Women's Liberation and National Health Care: Confronting the Myth of America« und Autorin von »Birth Strike: The Hidden Fight Over Women's Work«. Ihr neuestes Buch ist »Without Apology: The Abortion Struggle Now«.
Jenny Brown ist Mitglied der National Women's Liberation und ehemalige Redakteurin bei »Labor Notes«. Sie ist Ko-Autorin von »Women's Liberation and National Health Care: Confronting the Myth of America« und Autorin von »Birth Strike: The Hidden Fight Over Women's Work«. Ihr neuestes Buch ist »Without Apology: The Abortion Struggle Now«.