26. Oktober 2022
Klassengesellschaften gab es schon vor dem Kapitalismus: Die Antike und das Mittelalter hatten ihre eigenen Systeme der Ausbeutung. Die marxistische Geschichtsschreibung zeigt uns, wie sie funktionierten – und was uns ihr Niedergang über die Zukunft sagt.
Bauern bei der Feldarbeit, Holzschnitt aus dem Jahr 1296.
IMAGO / Photo12Als aufmerksame Beobachter der Geschichte befassten sich Karl Marx und seine Nachfolger vorrangig mit dem Aufstieg des Kapitalismus, seiner Ausbreitung in der Welt und den Möglichkeiten, ihn zu überwinden. Durch das Prisma des historischen Materialismus und seiner grundlegenden Begriffe hofften sie zu erkennen, unter welchen Bedingungen sich die historischen Klassengesellschaften entwickeln konnten, bevor sie unter der Last ihrer internen Widersprüche zusammenbrachen.
Der analytische Rahmen, den diese Forschenden entwickelten, war ausgesprochen einflussreich, wies jedoch grundlegende Schwächen auf. In den letzten Jahrzehnten haben Historikerinnen und Historiker der marxistischen Tradition diese Schwächen aufgedeckt und alternative Ansätze erarbeitet.
Diese Erneuerung der marxistischen Theorie ermöglicht es, die vorkapitalistischen Epochen auf ihrer eigenen Grundlage zu betrachten, statt sie lediglich zum geschichtlichen Vorzimmer des heraufziehenden Kapitalismus zu erklären. Gerade dies hatte nämlich in der Vergangenheit den aus marxistischer Sicht paradoxen Effekt, den Kapitalismus als natürliche Stufe der kapitalistischen Entwicklung erscheinen zu lassen.
Marx’ Interesse an vergangenen Gesellschaften entsprang seiner Suche nach einem allgemeinen Mechanismus gesellschaftlicher Transformation. Dieser – so die Hoffnung – sollte nicht nur den Aufstieg des Kapitalismus, sondern auch seinen vorhersehbaren Niedergang erklären. Für Marx vollzog sich Geschichte als Abfolge von Entwicklungsstufen: von der Antike über den Feudalismus zum Kapitalismus und schließlich dem Sozialismus.
Den Übergang von einer Stufe zur anderen erklärte Marx durch Veränderungen in der Produktionsweise (die wiederum aus technologischen Transformationen und anderen Faktoren hervorgingen) und den Kämpfen der sozialen Klassen, die durch die jeweilige Produktionsweise hervorgebracht wurden (Herren und Sklaven, Landadel und Leibeigene, Bourgeoisie und Proletariat).
Marx charakterisierte geschichtliche Epochen (Urkommunismus, Antike, Feudalismus) oder ein bestimmtes Ensemble ökonomischer Beziehungen (wofür er mitunter Begriffe wie »Germanisch«, »Slawisch« oder »Asiatisch« verwendete) also als Produktionsweisen. Die Schriften, die er dazu verfasste, sind jedoch vage. Diese Unklarheit spiegelt sich auch im Großteil der nachfolgenden marxistischen Literatur wider.
»Selbst die Lohnarbeit ist kein Alleinstellungsmerkmal kapitalistischer Gesellschaften.«
1974 veröffentlichte der britische Historiker Perry Anderson sein Hauptwerk Von der Antike zum Feudalismus: Spuren der Übergangsgesellschaft. Es war der bis dahin systematischste Versuch, die vorkapitalistischen Phasen der Geschichte zu untersuchen und in das allgemeine Theoriegebäude des Marxismus zu integrieren. Anderson folgte Marx’ Stufenmodell der europäischen Geschichte sehr genau. Er argumentierte jedoch, dass der für den Aufstieg und den Fall der klassischen Antike verantwortliche »wirkliche Mechanismus« nicht der Klassenkampf an sich, sondern der dynamische Widerspruch zwischen den »Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen« war.
In der klassischen Antike (ein Zeitraum, der von etwa 500 v.u.Z. bis 500 u.Z. andauerte) existierten zwei Formen der ökonomischen Organisation nebeneinander. Anderson bezeichnete sie als Sklavenhalterwirtschaft (»slave mode of production«) und »überdauernde und deformierte primitive Produktionsweise« (»distended and deformed modes of production«). Anderson betrachtete diese Produktionsweisen als Manifestation zweier entgegengesetzter politischer Kräfte: Auf der einen Seite die antiken Reiche (insbesondere das Römische Reich von 200 v.u.Z. bis 200 u.Z.) und auf der anderen jene Gesellschaften, die an den Rändern dieser politischen Gebilde verortet waren (die nomadischen Stämme bzw. die »Germanischen« Völker): »Der katastrophale Zusammenprall dieser beiden in Auflösung begriffenen alten Produktionsweisen – primitiv und antik – brachte letztlich die feudale Ordnung hervor, die sich über das mittelalterliche Europa ausbreitete.«
Zwischen dem Ende der klassischen Antike und der vollends entwickelten Leibeigenschaft klaffte eine Lücke, die die feudale Produktionsweise des späten Mittelalters kennzeichnete. Anderson entwickelte das Konzept einer hybriden Form der Arbeitsorganisation – das spätrömische Kolonat –, um die sechs Jahrhunderte zwischen dem Niedergang der antiken Sklaverei und der Geburt der mittelalterlichen Leibeigenschaft zu beschreiben.
Als er sich schließlich dem Geburtsort des Feudalismus und der Leibeigenschaft zuwandte, differenzierte Anderson zwischen den unterschiedlichen Entwicklungen in West- und Osteuropa. Auf dem westlichen Kontinent ließ sich bereits im 5. Jahrhundert ein tiefgreifender Prozess des sozialen Zerfalls und der Mutation feudaler Strukturen erkennen. In Osteuropa hatte der Feudalismus wiederum den Ausgangspunkt der westeuropäischen Feudalgesellschaften erreicht, fror jedoch an diesem Punkt ein, ohne ihre späteren Entwicklungen nachzuvollziehen.
Andersons Von der Antike zum Feudalismus stellte den bis dahin ambitioniertesten Versuch dar, eine marxistische Großerzählung der Weltgeschichte zu entwickeln. Die Schrift zeichnet sich vor allem durch ihre unmissverständliche Klarheit und ihren enormen Umfang aus. Andersons wichtigster Beitrag besteht jedoch gerade darin, die Grenzen von Marx’ universalem Stufenmodell der historischen Entwicklung aufgezeigt zu haben. Dieses Schema war in doppelter Hinsicht irreführend.
Erstens begriff dieses Modell Europa als Vorläufer für die Entwicklung der gesamten Weltgeschichte. Im Zuge dessen schrieb Marx dem Übergang von der Antike zum Feudalismus und schließlich zum Kapitalismus eine universelle »evolutionäre« Bedeutung zu. Wenn andere Teile der Welt keinen Feudalismus hervorgebracht hatten, so war das diesem Schema zufolge als Ausnahme von der Regel zu begreifen, die Europa angeblich so beispielhaft verkörpere.
»Die Vorstellung, dass die Sklaverei die ökonomische Basis der antiken Gesellschaften darstellte, ist schlicht und ergreifend falsch.«
In der Zwischenzeit haben Historikerinnen und Historiker allerdings überzeugend dargelegt, dass der Feudalismus in nicht-europäischen Gesellschaften viel verbreiteter war als bisher angenommen wurde. Sie haben außerdem gezeigt, dass Regime in ganz Eurasien – inklusive der sogenannten Asiatischen Despotien in Indien, China und anderen Regionen – gemeinsame Wurzeln in der Bronzezeit und ihrer urbanen Revolution besaßen. In Ost und West stellten solche Regime Varianten von Gesellschaften dar, die man als Tributsysteme bezeichnen könnte.
Wenn merkantilistischer Reichtum und der Tausch von Währungen die Zahlungsmittel des westlichen Feudalismus darstellten, so muss selbiges auch für die Regime des restlichen Eurasiens gegolten haben. Gemeinschaften von Händlern und Kaufleuten waren kosmopolitisch. Überall, wo um Prestige und kulturellen Einfluss gerungen wurde, organisierten sie sich in ähnlicher Weise und stießen auf vergleichbare Widerstände.
Das marxistische Schema ist aber auch in einer weiteren Hinsicht trügerisch: Es beschreibt historische Übergänge als Abfolge klar abgrenzbarer Modi der Aneignung von Mehrarbeit, zunächst als Übergang von der Sklaverei der Antike zur Leibeigenschaft des Mittelalters und schließlich zur Lohnarbeit kapitalistischer Gesellschaften.
In Wirklichkeit waren die Methoden, mittels derer die besitzenden Klassen sich das Mehrprodukt der unmittelbaren Produzenten aneigneten, viel unbeständiger und zufälliger als es das Modell nahelegt. Wenn wir uns einer konkreten Untersuchung antiker und mittelalterlicher Quellen zuwenden, finden sich für eine solche traditionelle Darstellung keine Beweise.
Die Vorstellung, dass die Sklaverei die ökonomische Basis der antiken Gesellschaften darstellte, ist beispielsweise schlicht und ergreifend falsch. Wenn man einmal von einigen wenigen Regionen und vergleichsweise kurzen historischer Zeitabschnitten absieht (wie etwa der späten Römischen Republik und dem frühen Römischen Reich, 200 v.u.Z. bis 100 u.Z.), spielte die Sklavenarbeit in der antiken Welt gerade in der Landwirtschaft eine untergeordnete Rolle.
Gleichzeitig überdauerte die Sklaverei in ländlichen Gebieten in Europa und dem Nahen Osten noch bis zum Mittelalter. Das zeigt sich etwa in der an Landbesitz gebundenen Sklaverei, die im Mittelmeerraum weit verbreitet war, wie auch an den seltenen, aber extremen Fällen der sklavenbasierten Plantagenwirtschaft im Irak des 10. Jahrhunderts oder im Iran des 13. Jahrhunderts.
Ebenso irrtümlich ist die Annahme einer notwendigen Beziehung zwischen Leibeigenschaft und Feudalismus. Feudalsysteme existierten innerhalb wie außerhalb Westeuropas, aber die Leibeigenschaft war nicht für all diese Gesellschaften charakteristisch – Indien und China bilden beispielsweise bedeutende Ausnahmen
Schlussendlich ist selbst die Lohnarbeit kein Alleinstellungsmerkmal kapitalistischer Gesellschaften, denn sie war sowohl in der Antike als auch im Mittelalter verbreitet. Gleichzeitig lassen sich viele Beispiele für Sklaverei oder Vertragsknechtschaft innerhalb kapitalistischer Gesellschaften finden, angefangen bei den gigantischen Plantagen des vorrevolutionären Haiti bis hin zur Ausbeutung migrantischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den heutigen Golfstaaten.
Nachdem marxistische Historikerinnen und Historiker die Schwächen des traditionellen marxistischen Schemas erkannten, begannen sie, einen neuen Bezugsrahmen zur Interpretation vorkapitalistischer Gesellschaften zu entwickeln. Drei gegenwärtige marxistische Wissenschaftler haben dazu einen besonderen Beitrag geleistet.
Einer von ihnen ist der Mittelalterhistoriker Chris Wickham, der sich auf Europa und den Mittelmeerraum spezialisiert hat. Wickham hatte den dogmatischen Ansatz des Marxismus zum ersten Mal in einem bahnbrechenden Artikel von 1984 in Frage gestellt: »The Other Transition: From the Ancient World to Feudalism« (Der andere Übergang: Von der antiken Welt zum Feudalismus). Im Jahr 2005 veröffentlichte er mit Framing the Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800 (Das Mittelalter einordnen: Europa und der Mittelmeerraum, 400–800) eines der einflussreichsten Bücher über den Übergang von der Antike zum Mittelalter.
Wickham widersetzt sich der vereinfachten Vorstellung, dass sich der Übergang von der Antike zum Mittelalter durch eine eindeutige Trennung von Sklaverei und Leibeigenschaft auszeichnet. Die Gegenüberstellung von Produktionsweisen, die er anstelle dessen vorschlägt, bezeichnet er als »antik« oder »tributär« und »feudal«. Die erste dieser beiden Produktionsweisen zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Macht in den Händen einer kleinen Elite an der Spitze des gesellschaftlichen Herrschaftsgefüges bündelt, während sie bei der zweiten hauptsächlich von lokalen Kriegsherren ausgeübt wurde, denen ein verhältnismäßig schwacher Herrscher übergeordnet war.
Historische Formationen des »antiken« oder »tributären« Modells umfassen das Römische, Byzantinische und Fränkische Reich sowie das Abbasiden-Kalifat. Die herrschenden Eliten an der Spitze dieser Regime hatten eine starke Stellung, weil sie mindestens zwei essenzielle Instrumente im institutionellen Gefüge dieser Gesellschaften beherrschten.
»Landbesitz und der Zugriff auf Bodenrenten entwickelten sich zur Hauptquelle des Reichtums aller Könige, Aristokraten und Fürsten.«
Zum einen kontrollierten sie ein strategisches Element des Produktionsprozesses: die Sammlung und Verwaltung standardisierter Informationen. Ihre administrative Rolle erlaubte es ihnen, Statistiken zu Eigentum, Einkommen, Demografie und Produktivität ihrer Herrschaftsgebiete anzufertigen. Diese Fähigkeit zur Informationsverarbeitung war der Schlüssel zum Erfolg des tributären Staatsprojekts.
Zum anderen kontrollierten die herrschenden Eliten ein strategisches Element der Zwangsausübung, nämlich ein stehendes Heer von überlegener militärischer Schlagkraft. Dadurch konnten Herrscher den Tribut über eigene Bedienstete eintreiben, statt auf die Unterstützung lokaler Fürsten angewiesen zu sein. Sie waren außerdem in der Lage, den Zugriff dieser Fürsten auf verschiedene Ressourcen – und damit auf das ökonomische Mehrprodukt – zu beschränken. Die Fürsten waren dadurch von den Einnahmen abhängig, die ihnen von den Eliten zugeteilt wurden.
Diese politischen Strukturen waren darauf angewiesen, der Landbevölkerung Tribute abzuverlangen, die hoch genug waren, um die zentralisierte Maschinerie ihrer Macht aufrechtzuerhalten (ein Hof, eine Bürokratie, eine besoldete Armee). Das Einsammeln und Verteilen von Tributleistungen hatte aber auch zwei wichtige Nebeneffekte für die Wirtschaft.
Zunächst waren die Bauern dazu gezwungen, einen größeren landwirtschaftlichen Überschuss zu erwirtschaften, um die Steuerforderungen des Staates erbringen zu können. Außerdem beflügelte dieses Arrangement die Profite der Kaufleute auf den langen Handelsrouten, die einst etabliert worden waren, um die Verteilung staatlicher Einnahmen zu gewährleisten. Mit dem Niedergang der tributgestützten Reiche endete auch dieses Arrangement ökonomischer Integration. Aus diesem wirtschaftlichen Zerfall gingen die lokalisierten – wie Wickham sagen würde – »feudalen« Ökonomien hervor.
Im Gegensatz zu den antiken Gesellschaften zeichneten sich die neuen Feudalsysteme durch den Vorrang der »Politik der Ländereien« (Politics of the Land) und eine Dezentralisierung der Zwangsmittel aus, die nun in die Hände lokaler Landbesitzer wanderten. Der Besitz und die unmittelbare Kontrolle von Ländereien war der ausschlaggebende Faktor, um in einer solchen politischen Formation Macht ausüben zu können. Der König oder der örtliche Magnat wurden nicht durch ihre formelle Rolle im Staat oder aufgrund ihrer offiziellen Ämter zu den mächtigsten Akteuren eines bestimmten Gebietes, sondern aufgrund ihres massiven Besitzes an Ländereien und der unmittelbaren Kontrolle, die sie über die dortige Bevölkerung ausübten.
In Europa entwickelten sich diese Gesellschaften nach dem Untergang des Römischen Reiches, in Asien nach dem Zusammenbruch des Abbasiden-Kalifats und der Tang-Dynastie. In Afrika entstanden sie nach dem Niedergang von Aksum und des Reiches von Ghana. In Abwesenheit eines zentralisierten Steuersystems konnten Herrscher keine direkte Kontrolle über ihre Territorium mehr ausüben. Landbesitz und der Zugriff auf Bodenrenten entwickelten sich so zur Hauptquelle des Reichtums aller Könige, Aristokraten und Fürsten.
Innerhalb dieser Definition einer feudalen Gesellschaft war es möglich (jedoch keinesfalls unausweichlich), dass sich eine politische und soziale Ordnung entwickelt, die auf Leibeigenschaft im engsten Sinne beruht, so wie es in Europa nach dem Untergang des Fränkischen Reiches der Fall war. Die Ordnung des Lehnswesens, bei dem der Fürst seinen Vasallen unter der Auflage bestimmter Bedingungen Grundbesitz zuteilte, implizierte auch die Verfügungsgewalt über die dort lebende Bauernschaft.
Es gibt viele denkbare soziale Konfigurationen, die zwischen der feudalen und der antiken Produktionsweise liegen. Wickham fügt außerdem eine dritte Option hinzu, die er als »bäuerliche Produktionsweise« (»peasant mode of production«) bezeichnet. Diese verweist auf die verschiedenen Formen der Bauernwirtschaft, in denen das Mehrprodukt durch keinen Staat oder Fürsten systematisch abgeschöpft wird. Für diese Variante kennen wir viele Beispiele, wie die Gemeinden des italienischen Appenins oder des mittelalterlichen Islands ebenso wie in der südostasiatischen Moderne.
John Haldon ist ein erfahrener Forscher auf dem Gebiet des Byzantinischen Reiches, der sich ebenfalls für die vergleichende Analyse des Osmanischen Reiches und des Mogulreiches interessiert. Wie Chris Wickham studierte Haldon bei Rodney Hilton, einem Gründervater der britischen Tradition marxistischer Geschichtsschreibung seit den frühen 1950er Jahren. Während sich Historiker wie Eric Hobsbawm, Christopher Hill, George Rudé und E.P. Thompson auf die Frühe Neuzeit und die Moderne in Europa konzentrierten, erforschte Hilton das Mittelalter. Ein besonderes Augenmerk legte er dabei auf die Bauernaufstände, denen er sein Buch Bond Men Made Free (Die Befreiung der Unfreien) von 1973 widmete.
»Die Bauern waren die ökonomische Basis der tributären Welt, ob nun nomadische Eliten, Feudalherren oder ein Staat an der Spitze des Herrschaftsgefüges standen.«
Haldons Sichtweise unterscheidet sich von der Wickhams im Hinblick auf Produktionsweisen im Übergang von der Antike zum Mittelalter. Seiner Argumentation zufolge besteht zwischen beiden Epochen eine grundlegende Kontinuität. In Haldons Augen zeichneten sie sich beide durch eine einzige, dominante Produktionsweise aus: die auf Tribut basierende Produktionsweise.
In seinem 1993 erschienenen theoretischen Werk The State and Tributary Mode of Production (Der Staat und die tributäre Produktionsweise) verwendet Haldon den Begriff einer Produktionsweise der Tributzahlungen. Der ägyptische Marxist Samir Amin hatte dieses Konzept ursprünglich entwickelt, um die unübersichtliche, unbeliebte und mehrheitlich bereits verworfene Kategorie der »Asiatischen« Produktionsweise von Karl Marx zu ersetzen. Haldon verwendet den Begriff jedoch eher in Anlehnung an die allumspannendere Definition, die Eric Wolf in seinem 1982 erschienenen Buch Europe and the People Without History (Europa und das Volk ohne Geschichte) vorstellt.
Haldon argumentiert, dass sich der grundlegende Vorgang der Aneignung des Mehrprodukts im Feudalismus ebensowenig von der tributären Produktionsweise unterscheidet, wie die ökonomische Beziehung zwischen den Produzenten und den Produktionsmitteln – unabhängig davon in welcher juristischen Kategorie diese Beziehung gefasst wird. Die Bauern waren die ökonomische Basis der tributären Welt, ob nun nomadische Eliten, Feudalherren oder ein Staat an der Spitze des Herrschaftsgefüges standen.
Worin sich beide Produktionsweisen jedoch unterscheiden, ist die Frage, wie viel Kontrolle die herrschende Klasse über die Bevölkerung ausüben konnte. Dies wirkt sich zwar auf die Ausbeutungsrate aus, ändert jedoch nichts am Wesen der Aneignung des Mehrprodukts.
Es wäre falsch, Haldons tributäre Produktionsweise als einzelne, gut 1.000 Jahre andauernde historische Epoche zu betrachten. Wäre dies der Fall, würde uns das Konzept kaum dabei helfen, die Herausbildung von Staaten oder jene konkrete politische Macht zu verstehen, deren Ausübung sich etwa in den verschiedenen Steuersystemen oder in Konflikten innerhalb der Eliten oder zwischen Eliten und zentralen Machtstrukturen verkörperte. Der analytische Rahmen ist zu groß, um die graduellen Verschiebungen und Umwälzungen in den Unterstrukturen von Staat und Gesellschaft zu verstehen. Es würde außerdem kaum zum Verständnis, ökonomischer Beziehungen beitragen.
Haldon hat Begriffe wie »tributäre Produktionsweise« oder »tributäre Produktionsverhältnisse« in Anschlag gebracht, um die Terminologie der feudalen, nomadischen und bäuerlichen Produktionsweisen zu ersetzen. Das erlaubt es uns, diese Bezeichnungen wiederum auf ganz bestimmte Gesellschaftsformationen anzuwenden.
Während nämlich all diese Formationen auf tributären Produktionsverhältnissen beruhen, sind sie durch spezifische historische Umstände und juristische Beziehungen voneinander getrennt. Das bedeutet jedoch nicht, dass jede dieser historischen Konfigurationen eine eigenständige Produktionsweise darstellt.
Historische Gesellschaften, die auf der tributären Produktionsweise basieren können entweder zu Zentralisierung oder zu Fragmentierung neigen, sogar zwischen beiden hin- und herschwanken oder sich in der Art und Weise unterscheiden, wie der Tribut angeeignet und verteilt wird.
Obwohl sich Chris Wickham und John Haldon nicht in der Frage einig sind, was überhaupt als Produktionsweise definiert werden kann, haben sie ein gemeinsames Ziel: Sie wollen verstehen, wie verschiedene herrschende Eliten ihre bäuerliche Bevölkerung unterwerfen konnten und wie sie das gesellschaftliche Mehrprodukt einsetzten, das sie den Produzenten abnahmen.
Im Begriff verweisen die tributäre und die feudale Produktionsweise auf soziale Schlüsselbeziehungen, die der politischen Autorität eines jeweiligen Gebiets die Aneignung und die Distribution eines Mehrprodukts ermöglichte. Wir müssen allerdings beachten, dass ein Teil dieses Mehrprodukts nach seiner Aneignung als Tribut weder direkt verbraucht noch an entsprechende Stellen verteilt wurde. Beinahe überall wurde ein Teil des Mehrprodukts in die Zirkulation und den Tausch geleitet.
»Die Basis der meisten produzierenden Gewerbe war die Arbeit bäuerlicher Familien. Ihre formale Subsumtion unter das Handelskapital beinhaltete die Aneignung gewaltiger Mengen unbezahlter Familienarbeit.«
Die Frage der Zirkulation steht im Fokus der Forschung von Jairus Banaji, einem Historiker des mittelalterlichen Mittelmeerraums und des Nahen Ostens, der sich ebenfalls mit der langen Geschichte des Kapitalismus befasst. Seine wesentlichen Bezugspunkte am marxistischen Firmament unterscheiden sich von denen Wickhams und Haldons. Er stützt sich auf das Werk zweier russischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts: den Historiker Michail Pokrowski und den Ökonomen Jewgeni Preobraschenski.
In seinem Buch A Brief History of Commercial Capitalism (Eine kurze Geschichte des Handelskapitalismus) unterscheidet Banaji zwischen dem, was Marx die »kapitalistische Produktionsweise« nannte, also eine revolutionäre neue Gesellschaftsordnung, die erst seit zwei Jahrhunderten existiert, und dem Kapitalismus in einem allgemeineren Sinne. Dieser kann Banaji zufolge auch den Handelskapitalismus bezeichnen, der in bestimmten Weltregionen zwischen dem 12. und dem 18. Jahrhundert existierte.
Mit dieser Sichtweise stellt sich Banaji gegen einen orthodoxen Marxismus, demzufolge Handelsreichtum kein »Kapital« im Marxschen Sinne darstellt, solange dieser Reichtum dem Produktionsprozess äußerlich bleibt. Er unterscheidet sich von dem, was Marx als »reelle Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« bezeichnet hat, da im Falle des Handelsreichtums lediglich Produkte der privaten Produzenten angeeignet und mit Gewinn verkauft werden.
Mit dieser alternativen Perspektive bezieht sich Banaji auf Marx selbst, der im dritten Band des Kapitals schrieb, der Produzent selbst könne Kaufmann und Kapitalist werden »oder aber, der Kaufmann bemächtigt sich der Produktion unmittelbar«. Marx verstand die zweite dieser möglichen Entwicklungslinien als weniger fortschrittliche Form des Übergangs zum Kapitalismus, da sie die »Produktionsweise« – also den Arbeitsprozess – unangetastet ließe.
Das Handelskapital verband die Sphären von Produktion und Zirkulation auf verschiedene Weise und zu verschiedenen Zeiten. Seine lange Geschichte umfasst internationale Geldmärkte, Verlagsnetzwerke, die vertikale Integration der landwirtschaftlichen Produktion und Plantagengeschäfte. Banaji macht die grundlegenden Ursprünge des Handelskapitalismus bereits in der Antike und der Frühzeit des Islam aus, bemerkt jedoch, dass es unmöglich ist, seine historische Herkunft genau zu bestimmen, wie es bei jeder epochalen Veränderung der Fall ist.
Kaufleute der islamischen Welt im 10. Jahrhundert organisierten kommerzielle Partnerschaften, finanzierten Reisen, transportierten Güter und kontrollierten den Seehandel des Mittelmeeres, des Nahen Ostens und des Indischen Ozeans. Im 11. Jahrhundert zeichnete sich die chinesische Song-Dynastie durch die stete Zunahme kapitalistischer Aktivitäten im Bergbau und der Eisenproduktion sowie einem rapiden Wachstum des Außenhandels und des Geldmarktes aus.
Kapitalistische Gruppen dominierten die merkantilen Städte Italiens und übten dort verschiedene Funktionen aus. In Florenz organisierten sie häusliche Produzenten in Verlagsnetzwerken, in Bologna investierten sie in die Produktion neuer Manufakturentwürfe, während sie in Genua und Venedig den Handel durch Wechselgeschäfte und Handelsbanken organisierten.
Die Basis der meisten produzierenden Gewerbe war die Arbeit bäuerlicher Familien. Ihre formale Subsumtion unter das Handelskapital durch die Kanäle der Zirkulation beinhaltete die Aneignung gewaltiger Mengen unbezahlter Familienarbeit zum Vorteil der Kaufleute. Banajis Modell des Handelskapitalismus ist eines der kombinierten Entwicklung, nicht der linearen Abfolge zwischen verschiedenen Produktionsweisen.
Die Modelle, die Wickham und Haldon entwarfen, zeigen uns, dass es nicht entscheidend ist, ob wir ein, zwei oder drei Produktionsweisen identifizieren oder ob wir eine davon »tributär« oder »feudal« nennen. Nützlichkeit eines Begriffs bemisst sich vielmehr daran, ob er imstande ist, die historische Konfigurationen sozialer Veränderung zu beleuchten.
Gesellschaften entwickeln sich durch menschliche Interaktion. Der Begriff der »Produktionsweise« soll die politischen und ökonomischen Beziehungen enthüllen, die diesen Interaktionen ihre Bedingungen auferlegen.
In Gesellschaften, die auf der tributären/feudalen Produktionsweise basieren, wird das Mehrprodukt durch Eliten angeeignet, es wird aber ebenso durch die Transaktion kommerzieller Mittelsmänner verteilt und getauscht. Banajis Arbeiten untersuchen die Umstände, unter denen Kaufleute die Expansion des Handels vorantrieben, während sie durch die Macht anderer gesellschaftlicher Gruppen dabei entweder unterstützt oder behindert wurden.
Die Unterschiede dieser verschiedenen Denkschulen sind bedeutsam, denn sie sind ein Abbild der Vielfalt der menschlichen Geschichte. Wie Marx schrieb, kann der Produzent unter bestimmten Umständen zum Kaufmann und der Kaufmann zum Produzenten werden. Immer wenn sich eines davon ereignete, expandierte das Kapital.
Diese Expansionen vollzogen sich aber auf unterschiedliche Weise. Dies konnte von Umwälzungen der landwirtschaftlichen Beziehungen bis hin zu Veränderungen in der Welt des Handels reichen. Der Staat konnte hierbei eine entscheidende Rolle spielen. Er konnte zur Triebfeder einer Wirtschaft weitreichender Kapitalexpansion werden, wie es beim Steuerwesen des späten Römischen Reiches der Fall war. Er konnte ebenso als Katalysator im Übergang vom Handelskapitalismus zur kapitalistischen Produktionsweise fungieren: Im 19. Jahrhundert ereignete sich die schlagartige Herausbildung nationaler Ökonomien, die stärker durch die große Industrie als den Handel an sich geprägt waren.
In der langen Zeitspanne zwischen diesen zwei Beispielen finden sich viele verschiedene Entwicklungslinien der Kapitalexpansion. Die Varianten des organisierten Handelskapitalismus waren vielfältig. Von den muslimischen Staaten über die chinesischen Königreiche und die transatlantischen iberischen Reiche unterschieden sie sich nicht nur nach der Form ihrer Produktion, sondern auch nach dem Verhältnis von Kapital und politischer Autorität.
Die Stärke der marxistischen Strömungen, die hier beschrieben wurden, liegt gerade darin, diese Variabilität ernst zu nehmen. Sie verstehen historische Umwälzungen nicht als bloßen Übergang von einer Produktionsweise zur nächsten.
Indem sie eine gesellschaftliche Analyse materieller Strukturen und historischer Prozesse entwickelten, schufen sie gleichzeitig eine Reihe von grundlegenden Begriffen, die die lineare Sichtweise auf die Geschichte ablehnen und den Eurozentrismus, der damit einhergeht. Mehr als alles andere jedoch wenden sie sich gegen die Auffassung eines vorherbestimmten Pfads der Geschichte, dessen unausweichliches Ziel der Kapitalismus ist.
Paolo Tedesco lehrt Geschichte an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der späten Antike und des frühen Mittelalters, die vergleichende Agrargeschichte und der historische Materialismus.