05. Juli 2024
Wim Wenders’ Oscar-nominierter Film »Perfect Days« wurde von der Kritik als Loblied der Achtsamkeit gefeiert. Tatsächlich erzählt er davon, was man auf der Suche nach einem achtsamen Leben verlieren kann.
Hirayama bei seiner Arbeit.
© DCM, 2023Wir lernen Hirayama, den Protagonisten von Perfect Days, als einen Mann ohne Vergangenheit kennen. Als Putzkraft öffentlicher Toiletten in Tokio tätig, folgen wir seiner täglichen, asketischen Routine.
Da ist das Profane: der Kaffee to-go, den er morgens am Automaten kauft; die Route, die er in seinem kleinen Van durch die Stadt fährt; die Toiletten, die er mit seinen improvisierten Werkzeugen akribisch reinigt; die Parkbank, auf der er sein Sandwich zum Mittagessen isst; die öffentlichen Bäder, in denen er sich wäscht; und das Restaurant, in dem er zu Abend isst.
Dann ist da das Sublime: die Fotos von »komorebi« – Licht, das durch die Blätter eines Baumes gefiltert wird –, die er jeden Tag mit seiner analogen Kamera macht; die alten Musikkassetten, die den Soundtrack seines Lebens bilden; die Bonsais in seiner Wohnung, die er so sorgfältig pflegt; die Literatur, die er liest, bevor er seine Matratze ausklappt, um sich vor dem nächsten Arbeitstag auszuruhen.
Wir erleben drei solcher Tage im Leben von Hirayama, exquisit gespielt von Koji Yakusho. Drei in sich abgeschlossene, repetitive und schöne Tage einer Existenz, die von Einfachheit und Vertrautheit geprägt ist. Das erste Drittel des Films ähnelt dabei einer Dokumentation. Wenders war tatsächlich ursprünglich eingeladen worden, um Kurzfilme über die öffentlichen Toiletten Tokios, die Hirayama reinigt, zu produzieren.
Leider scheinen jedoch die meisten Kritikerinnen und Kritiker nach dem ersten Drittel des Films nicht mehr aufgepasst zu haben. Nahezu einstimmig haben sie Perfect Days wörtlich genommen und ihn als »Meditation über Dankbarkeit« oder als »Zen-Meditation über Schönheit, Erfüllung und Einfachheit« romantisiert. Manche gingen sogar so weit, ihn eine »meditative Abhandlung über Achtsamkeit« zu nennen. Das sagt allerdings mehr über die Kritikerinnen und Kritiker als den Film aus.
Wie Eileen Jones in ihrer Rezension schrieb, handelt es sich um eine spezifische Fantasie der Mittelschicht, »durch die Entscheidung zu einem asketischen Leben den schlimmsten Auswirkungen des Kapitalismus zu entkommen«. Es überrascht somit nicht, dass wir im Laufe des Films von Hirayamas wohlhabender Familie erfahren. Wenders und Drehbuchautor Yakusho erklärten in Interviews, dass sie sich Hirayama als einen pensionierten Firmenchef vorgestellt haben, der ein einfaches Leben einem mit Finanzen und Macht vorzieht.
»›Perfect Days‹ feiert nicht einfach das achtsame Leben, sondern erzählt eine Geschichte davon, was man bei der Suche danach verlieren kann.«
Dabei praktiziert Hirayama keine Achtsamkeitsübungen der florierenden »Corporate Mindfulness«-Industrie. Bis zu einem gewissen Grad widersetzt er sich diesen Versuchen des Neoliberalismus, die Arbeiterinnen und Arbeiter durch kommerzialisierte Yoga-Kultur, Achtsamkeits-Apps und Selbsthilfebücher produktiver machen soll. Für ihn geht es allein um die Wertschätzung der Gegenwart und nicht darum, mehr Profit aus ihr herauszuquetschen. Hirayama reinigt die Toiletten so sorgfältig aus Freude am Tun – oder wie er es ausdrückt: »Jetzt ist jetzt«. Letztendlich läuft sein Widerstand jedoch auf nicht viel mehr als individualistischen Eskapismus hinaus.
Der Film hat eine Klassendimension, die dem Publikum durch überarbeitete Männern in Anzügen präsentiert wird, die durch das Yuppie-Viertel Shibuya in Tokio eilen. Diese »alten Hirayamas« sind die hauptsächlichen Benutzer der öffentlichen Toiletten, die der »neue Hirayama« nun reinigt. Ihre Herablassung spiegelt sich später im Klassismus seiner eigenen Schwester wider, die ihn bei ihrem Wiedersehen fragt: »Putzt du jetzt wirklich Toiletten?«
Durch den Wechsel aus den höheren Unternehmensetagen in die Instandhaltung öffentlicher Infrastruktur hat Hirayama wohl zumindest einen Teilbruch mit seiner Klasse vollzogen. Aber im krassen Gegensatz zu seiner tiefen Beziehung mit seiner nicht-menschlichen Umwelt baut er keine bedeutsamen Beziehungen zu seinen Mitarbeitern, Nachbarinnen oder seiner Familie auf. Seine Existenz bleibt von sozialer Entfremdung geprägt. Damit feiert Perfect Days nicht einfach das achtsame Leben, sondern erzählt eine Geschichte davon, was man bei der Suche danach verlieren kann.
Zu behaupten, der Film bediene lediglich eine klassenspezifische Eskapismus-Fantasie, wie Jones es tut, verkehrt den Jubel der Mainstream-Kritiker über »spartanischen, achtsamen Eskapismus« schlicht ins Gegenteil. Sie akzeptiert damit irrtümlicherweise deren Projektionen als eine akkurate und abschließende Lesart des Films – und reduziert ihn so auf eine Geschichte ohne Dilemmata. In Wirklichkeit zelebriert Perfect Days zwar einen achtsamen Rhythmus und ein asketisches Leben, lässt dessen Preis und Tragik aber nicht außer Acht.
Im zweiten Drittel des Films findet die Vergangenheit einen Weg zurück in die endlose Gegenwart Hirayamas. Seine Nichte Niko läuft von zu Hause weg und taucht plötzlich vor seiner Haustür auf. Man könnte den Beginn einer typischen Heldenreise vermuten: ein Onkel, dessen einsame Routine gestört wird und der dadurch erkennt, was er alles verloren hat, und durch diese Einsicht beschließt, sein Leben zu ändern. So fröhlich die Momente auch sind, die Niko und Hirayama miteinander verbringen, und so sehr sie ihm auch anbietet, sein Leben zu ändern, erzählt Perfect Days aber eine andere Geschichte.
Nach zwei gemeinsamen Tagen hält ein schwarzer Wagen mit Chauffeur vor Hirayamas Wohnung. Nikos Mutter, Hirayamas Schwester, ist gekommen, um ihre Tochter abzuholen. Niko fleht ihren Onkel an, bei ihm bleiben zu dürfen. Doch weder hilft ihr Hirayama noch sucht er ein richtiges Gespräch mit ihrer Mutter. Als diese ihn bittet, ihren sterbenden Vater zu besuchen, lehnt er ab, umarmt sie, vergießt ein paar Tränen, schluckt seine Gefühle herunter und macht mit seinem Leben weiter wie bisher. So plötzlich wie die Vergangenheit aufgetaucht ist, so schnell lässt Hirayama sie ziehen, mitsamt den Herausforderungen und Alternativen, die sie bietet.
Diese Szene ist sinnbildlich für Hirayamas merkwürdige Beziehung zu anderen Menschen. Er ist zurückhaltend, aber zugänglich, funktional und doch angenehm. Er wäscht sich in den öffentlichen Bädern und spricht nie mit anderen Gästen, er isst auswärts und verlangt vom Kellner nie mehr als die Rechnung, und er liebäugelt eindeutig mit der Besitzerin einer Bar, traut sich aber nie, mit ihr auszugehen. Am Ende badet, isst und trinkt er allein. Vielleicht ist Hirayama glücklich mit seinem Leben tugendhaften Alleinseins. Aber es gibt wenig, was es von Einsamkeit unterscheidet.
Im letzten Drittel des Films sieht Hirayama, wie sein Schwarm, die Barbesitzerin, einen anderen Mann umarmt. Erschüttert und beschämt flieht er, um am Fluss zu rauchen und zu trinken. Dort erscheint eben jener Mann und bei einem gemeinsamen Bier stellt sich heraus, dass er der Ex-Eheman der Barbesitzerin ist. An Krebs erkrankt, kam er vorbei, um sich von ihr zu verabschieden. Hirayama tröstet und unterhält den Mann mit einem Spiel aus seiner Kindheit, das sie in der Dämmerung am Flussufer spielen. Die Szene birgt einen seltenen Moment gemeinsamer Verletzlichkeit in einem Leben, das ansonsten wenig Raum für kollektive Formen von Erkenntnis, Schmerz und Freude zu bieten scheint.
Hier schlägt Perfect Days einen Bogen zur Vereinsamungskrise neoliberalisierter Gesellschaften. Japan ist dafür vielleicht das extremste Beispiel: Fast 1,5 Millionen Japanerinnen und Japaner – sogenannte Hikikomori – leben in völliger sozialer Zurückgezogenheit. Ihre Wohnungen verlassen sie nur für lebenswichtige Aufgaben wie den Lebensmitteleinkauf. Zunächst scheint der Film nicht-kommodifizierte Achtsamkeit und tugendhaftes Alleinsein als Lösung für diese Krise anzubieten. Letztendlich zeigt er uns jedoch deren Grenzen auf.
Erst mit der Schlussszene wird Perfect Days von einem guten Film zu einem Meisterwerk. In der letzten Einstellung kehrt Hirayama zu seiner Routine zurück und fährt im Morgengrauen unter einer honigfarbenen Morgensonne durch Tokio. Zur Melodie von Nina Simones »Feeling Good« bricht er plötzlich in Grinsen und Stirnrunzeln, Lächeln und Tränen aus. Und wir, das Publikum, fragen uns, ob er nun wirklich glücklich alleine ist, ob er sich wirklich »gut fühlt«. Nur wenige Kritikerinnen und Kritiker haben sich mit der Zweideutigkeit dieser Szene auseinandergesetzt.
Letzten Endes ist der Film weder eine Geschichte sublimer Achtsamkeit noch eine eskapistische Fantasie. Jede scheinbar widersprüchliche Lesart des Films begeht denselben Fehler: Sie sieht nur Hiraymas Streben nach einer endlosen Gegenwart. Dabei wird ignoriert, was er mit seinem Versuch, endlose perfekte Tage zu leben, verloren hat und weiter verlieren wird.
Daniel Kopp ist Kommunikationsdirektor bei UNI Europa, dem europäischen Gewerkschaftsverband für den Dienstleistungssektor.
Nick Johnston ist Doktorand in Philosophie.