15. September 2020
Wir lassen Reiche reich sein, in der Hoffnung, irgendwann mal selbst dazuzugehören. Das schadet uns allen. Zeit, sich umzuorientieren.
In welcher wirtschaftlichen Situation sich die Familie befindet, in die man hineingeboren wird, kann man im Vorhinein nicht wissen. Während die einen mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund geboren und sich materiell für den Rest ihres Lebens niemals Sorgen machen werden, ist die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland in eine arme Familie geboren zu werden, so gering nicht. Sage und schreibe 13 Millionen Menschen lebten 2018 in Deutschland in relativer Armut.
Den meisten mag es materiell zwar besser gehen, doch der Blick nach unten diszipliniert. Die Angst, abzurutschen, macht Menschen hörig, nicht nur auf der Arbeit. Gleichzeitig gilt das Reichtumsversprechen für diejenigen, die nicht reich sind: Tagtäglich wird uns vorgemacht, wir könnten aufsteigen, wenn wir uns denn nur genügend anstrengen, mal etwas erben oder im Lotto gewinnen würden. Glauben wir selbst an diese Erzählung, werden wir nie etwas an der Reichtumsverteilung ändern. Die Frage ist: Warum kann es in Deutschland so viele arme Menschen geben, wenn wir doch in einem sehr reichen Land leben? Ebenfalls im Jahr 2018 erwirtschafteten wir zusammen ein Bruttoinlandsprodukt in Höhe von mehr als 3,3 Billionen Euro. Das ist eine Wirtschaftsleistung, die für jede Bürgerin und jeden Bürger ein auskömmliches Leben in Würde garantieren sollte. Doch dem ist nicht so.
Es ist die Achtung der Menschenwürde, die im Grundgesetz an erster Stelle steht. Hätten wir uns diese Achtung nicht mühsam erkämpft, was würde uns Menschen von den Schweinen oder den Rindern unterscheiden, die wir Tag für Tag zu Tausenden schlachten und zerlegen? Es brauchte eine Pandemie und die damit einhergehenden Masseninfektionen unter den für einen Hungerlohn schuftenden Arbeitsmigrantinnen und -migranten, damit dieser grundlegende Unterschied zwischen dem Geschlachteten und den Schlachtenden in den industriellen Komplexen eines Oligarchen wie Clemens Tönnies wieder in das Blickfeld der Politik rücken konnte. Das Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie bleibt ein Tropfen auf dem heißen Stein der Ausbeutung von Menschen und Tieren.
Die Rolltreppe des Wohlstands fährt für uns, die von ihrer Arbeit leben müssen, abwärts. Die Angst, in die Schattenwelt der Armut hinabzufahren, bereitet uns allen Sorgen. Die Entbehrungen dort sind groß, ein gelingendes Leben in Würde kaum möglich.
Dass viele unserer Probleme mit der Reichtumsorientiertheit unserer Gesellschaften zusammenhängen, wird uns immer stärker bewusst. Unser Kalkül, dass Reichtum gut ist und wir Reiche brauchen, damit von den Effekten ihres Strebens nach Reichtum alle profitieren, geht schon lange nicht mehr auf. Außerdem verwechseln wir persönlichen Reichtum mit Wohlstand für alle.
Während der Wohlstand, nach dem wir streben, sich primär aus der eigenen Arbeit speist, speist sich der massive Reichtum aus Kapitalerträgen und leistungslosem Einkommen, etwa durch Erbe oder Besitz. Für mehr Reichtum braucht es Profite: immer mehr, immer höhere. Es ist wahrscheinlich auf diese Verwechslung von Wohlstand und Reichtum zurückzuführen, dass es uns schwerfällt, den Reichtum grundsätzlich zu kritisieren und als das zu betrachten, was er ist: eine Schweinerei.
Während an immer ausgefeilteren Strategien gearbeitet wird, um Profite zu erwirtschaften, fußen die geläufigsten Strategien nach wie vor auf Betrug, Steuerhinterziehung und -optimierung, sowie der altgedienten Ausbeutung von Menschen, Tieren und der Natur. Für die Reichen fährt die Rolltreppe immer steiler nach oben.
Der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet und dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen hat, bleibt im Rennen um die Profite auf der Strecke. Immer mehr Menschen, die bei ihrer Arbeit vom wohlwollenden Verhalten kapitalistischer Unternehmerinnen und Unternehmer abhängig sind, machen die Erfahrung, dass jene, die ohnehin von allem zu viel haben, sich um die Allgemeinheit wenig scheren.
Wer heute Reichtum kritisiert, das Streben danach in Frage stellt, ist schnell mit Relativierungen konfrontiert. Allzu viele empfinden sich selbst als kritisiert, weil sie ihren berechtigten Wunsch nach Wohlstand und Leben in Würde mit dem Streben nach profitbasiertem Reichtum verwechseln. Je besser wir den Unterschied zwischen Wohlstand und Reichtum aufzeigen können, desto eher werden sich effektive wirtschaftspolitische Maßnahmen – wie zum Beispiel die Reaktivierung und Erhöhung der Vermögenssteuer auf bis zu 100 Prozent – durchsetzen lassen.
Es wird sich auch zeigen, ob die so wichtigen klimapolitischen Ziele ohne eine Abkehr von der gesellschaftlichen Reichtumsorientiertheit realisiert werden können. Neben dem Ausstieg aus der Atomenergie und dem Verzicht auf fossile Energieträger kann und muss der Ausstieg aus der Reichtumsorientiertheit die dritte wichtige Säule der globalen klimapolitischen Wende werden.
Beeilen wir uns und orientieren wir uns auf eine Politik des gesellschaftlichen Wohlstands. Sonst bleibt von der Welt, von unseren Kiezen und Dörfern, wie wir sie kennen, bald nicht mehr viel übrig.