13. Dezember 2021
Kapitalisten haben an sich nichts gegen die Demokratie. Aber sie haben noch nie ein Wahlergebnis akzeptiert, das ihre Macht bedroht hätte.
Hartnäckig hält sich der der politische Konsens, es gäbe zwischen Kapitalismus und Demokratie eine Affinität. In den Augen der Ideologen des freien Marktes führt jede Einschränkung der Freiheit des Kapitals die Gesellschaft auf einen »Weg zur Knechtschaft«, wie Friedrich Hayek es ausdrückte. Selbst Linksliberale und Sozialdemokratinnen, die eigentlich der Meinung sind, dass Märkte reguliert werden sollten, räumen ein, dass ein Wirtschaftssystem, das auf dem Privateigentum an ökonomischen Ressourcen basiert, für den Erhalt der Freiheit unabdingbar sei.
Dabei zeigt schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte, dass Kapitalistinnen und Kapitalisten einige der berüchtigtsten autoritären Regime maßgeblich unterstützt haben – vom Dritten Reich über die südafrikanische Apartheid bis hin zu den Juntas in Lateinamerika. Selbst wenn wir nur die Minimaldefinition von Demokratie verwenden – nämlich das Vorhandensein einer Reihe von Verfahren zur formal friedlichen Ablösung von Regierungen –, gibt es eindeutig keine notwendige Verbindung mit dem Kapitalismus. Die Koexistenz von Demokratie und Kapitalismus ist möglich, aber keineswegs unvermeidlich.
In einer Zeit, in der rechtsautoritäre Kräfte selbst in den alteingesessensten kapitalistischen Demokratien wieder erstarken, ist eine realistische Einschätzung der kapitalistischen Klasse und ihres Verhältnisses zur Demokratie unerlässlich. Kapitalistinnen und Kapitalisten stehen der Demokratie weder zwingend feindselig gegenüber noch unterstützen sie diese ausnahmslos. Vielmehr ergeben sich ihre politischen Interessen, wie auch die von anderen Klassen, aus ihrer strukturellen Position innerhalb der Klassenverhältnisse und aus den konkreten Umständen des Klassenkampfs.
Als erstes gilt es, die charakteristischen Klasseninteressen des Kapitals klar zu identifizieren. Kapitalistinnen und Kapitalisten bilden einen spezifischen Typ von Klasse – wenn wir sie verstehen wollen, müssen wir von Kategorien absehen, die zwar zugänglich erscheinen, allerdings äußerst ungenau sind. Sie sind weder »die Reichen« noch »das 1 Prozent« noch »die wirtschaftliche Elite«. Die kapitalistische Klasse zeichnet sich durch ihre besondere Stellung im System jener antagonistischen sozialen Verhältnisse aus, in denen die Abschöpfung von Überschüssen stattfindet. Die Politik in fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften ergibt sich zu einem großen Teil aus dem politischen Verhalten, das für diese Gruppe charakteristisch ist.
Die großen kapitalistischen Demokratien sind alles andere als Vorzeigebeispiele für einen »freien Wettbewerb der Eliten« oder »formale Demokratie«. Verzerrende Mechanismen wie Wahlleute, »Winner takes all«-Mehrheitswahlen oder qualifizierte Mehrheiten führen dazu, dass sich zwischen der tatsächlichen Verteilung politischer Ansichten in der Gesellschaft und ihrer Repräsentation in der Politik eine Kluft auftut. Die folgenden Bemerkungen würden aber auch noch für das perfekteste repräsentative System zutreffen.
Was die kapitalistische von früheren herrschenden Klassen unterscheidet, ist die Art und Weise, in der sie ihre wirtschaftlichen Überschüsse von jenen abzieht, die sie erzeugen. Kapitalistinnen eignen sich die Früchte der Arbeit ihrer Beschäftigten kraft ihres rechtlich abgesicherten Anspruchs auf privates Eigentum an den wichtigsten gesellschaftlichen Produktionsmitteln an. In der Regel extrahieren sie ihre Überschüsse nicht durch den Einsatz politischer Mittel – wie etwa durch die Androhung oder tatsächliche Anwendung von Gewalt oder indem sie die Arbeit über staatliche Autorität erzwingen –, sondern durch einen formal freien Austausch von Geld gegen Arbeitskraft.
Das für den Kapitalismus wesentliche Klassenverhältnis stellt daher keine unmittelbar politische, sondern eine ökonomische Beziehung dar. Die besondere Herangehensweise von Kapitalistinnen und Kapitalisten an die politische Autorität beziehungsweise den Staat ergibt sich aus der Tatsache, dass ihre soziale Stellung von der Aufrechterhaltung dieses ökonomischen Verhältnisses abhängt. Die entscheidende Konsequenz ihrer Stellung in den Ausbeutungsverhältnissen ist nämlich, dass ihre grundlegenden Klasseninteressen keine direkte Kontrolle der Regierung erfordern.
Auf politischer Ebene hat dies zweierlei Folgen: Erstens ist die kapitalistische Ausbeutung mit dem Wechsel von Regierungen im Staat vereinbar; und zweitens müssen die Personen, die diese Regierungen bilden, nicht selbst Kapitalistinnen sein. Tatsächlich geht eine Reihe von Theorien des kapitalistischen Staates davon aus, dass Nicht-Kapitalisten als politische Managerinnen des Kapitalismus oft bessere Arbeit leisten als Kapitalisten selbst es täten.
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist also formal mit Demokratie und Wahlen kompatibel. Die vielen Beispiele für politischen Autoritarismus im Rahmen kapitalistischer Systeme zeigen zwar, dass der Kapitalismus auch mit anderen politischen Formen vereinbar ist. Das wirklich Besondere am Kapitalismus ist jedoch seine Kompatibilität mit demokratischen Wahlen: Keine andere ausbeutende Klasse in der Geschichte konnte ein politisches System zulassen, das einem beträchtlichen Teil der Arbeitenden das Wahlrecht gewährt. Es ist eine Folge der höchst spezifischen Interessen der kapitalistischen Klasse, dass sie ein solches System in vielen Fällen toleriert.
Neben dieser generellen Kompatibilität besteht noch eine weitere, spezifischere Verbindung zwischen den kapitalistischen Klasseninteressen und der liberalen Demokratie. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus den für den Kapitalismus charakteristischen klasseninternen Beziehungen. Da sich Kapitalistinnen ihre Überschüsse über ihr individuelles Privateigentum an den Produktionsmitteln aneignen, müssen sie den Mehrwert durch den Verkauf von Produkten auf dem Markt realisieren. Infolgedessen konkurrieren sie mit anderen Kapitalisten um Marktanteile. Außerdem versuchen sie stets, neue Produktionszweige zu erschließen, wobei sie ebenfalls miteinander in Konkurrenz treten.
Diese beiden Prozesse – die Konkurrenz innerhalb von Wirtschaftszweigen und der Wettbewerb um die Erschließung neuer Absatzmärkte – bedeuten, dass Kapitalistinnen und Kapitalisten sehr differenzierte ökonomische Interessen haben, obwohl sie ein allgemeines Klasseninteresse teilen. Auch dadurch unterscheiden sie sich von anderen herrschenden Klassen in der Geschichte. So haben etwa Ölkonzerne, Fotovoltaikzellen-Hersteller oder Windkraftproduzenten durchaus rivalisierende Interessen. Zwischen den Kapitalistinnen tobt ein Krieg aller gegen alle, weshalb die Aufrechterhaltung einer unpersönlichen Rechtsordnung im Interesse dieser Klasse ist – und das erfordert die Rotation verschiedener Regierungen durch den Staat. Kapitalisten tolerieren die repräsentative Demokratie also nicht einfach nur, sondern sie haben ein positives Interesse an ihr.
Die Duldung demokratischer Wahlen durch die kapitalistische Klasse hat zwei klar definierte Grenzen: Die eine ergibt sich aus dem Klassenkampf, die andere aus den strukturellen Bedingungen kapitalistischer Ökonomien.
Beginnen wir mit der ersten Art von Grenze: In Zeiten des Wirtschaftswachstums akzeptieren Kapitalistinnen und Kapitalisten unter Umständen die Entstehung von Organisationen der arbeitenden Klasse, die auf eine Umverteilung der gesellschaftlichen Überschüsse zugunsten der Löhne drängen. Das tun sie jedoch nur unter der Bedingung, dass diese dafür das Ziel der Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln durch die Ergreifung und den Einsatz der Staatsmacht entweder relativieren oder ganz aufgeben.
Anders ausgedrückt: Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte hat die kapitalistische Klasse – sei es auch nur kurzfristig – Massenorganisationen und Parteien der arbeitenden Klasse toleriert, welche die Ergreifung der Staatsmacht anstrebten, um die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse abzuschaffen. In den Fällen, in denen solche Parteien innerhalb des Kapitalismus existieren konnten, mussten sie ihre sozialistischen Ziele immer grundsätzlich aufgeben oder abmildern: Das galt für die skandinavische Sozialdemokratie ebenso wie für die Kommunistische Partei Italiens.
Dies hat für uns Sozialistinnen und Sozialisten eine entscheidende Konsequenz: Wenn einmal eine selbstbewusste Arbeiterbewegung, die für den Sozialismus kämpft, kurz vor dem Sieg zu stehen scheint, dann wird die kapitalistische Klasse ihr Engagement für die Demokratie aufkündigen und zu Notmaßnahmen greifen. Ohne die Unterdrückung des kapitalistischen Klassenfeindes kann es keinen Übergang zum Sozialismus geben. Und das kann nicht allein im Rahmen von Wahlen geschehen. In anderen Worten: Der Sozialismus lässt sich nicht im engeren Sinne herbeiwählen, sondern muss auf einer breiteren demokratischen Teilhabe der Menschen an der Macht aufbauen.
Die zweite Grenze ergibt sich aus den strukturellen Besonderheiten der kapitalistischen Wirtschaft. Wie bereits erwähnt, kann die kapitalistische Klasse eine Mobilisierung der Arbeitenden mit dem Ziel größerer materieller Zugeständnisse durchaus tolerieren, solange die Wirtschaft wächst. Denn unter diesen Umständen kann sie eine in ihren Forderungen milde gewordene arbeitende Klasse mehr am gesellschaftlichen Reichtum teilhaben lassen, ohne selbst zurückstecken zu müssen.
Aber sobald sich das Wachstum verlangsamt, wird der Konflikt um die Verteilung des gesellschaftlichen Wohlstands zu einem Nullsummenspiel zwischen Kapital und Arbeit. Gleichzeitig verschärft sich auch der Wettbewerb der Kapitalistinnen und Kapitalisten untereinander. In einem solchen Umfeld ist die kapitalistische Klasse immer weniger bereit, die mageren Gewinne aus dem Wachstum zu teilen und geht daher vermehrt zu »Winner takes all«-Strategien über.
Verlangsamt sich das Wachstum, verändert sich auch die Strategie der Kapitalistinnen und Kapitalisten, um ihren Anteil an den Gewinnen zu erhöhen: Anstatt in die Produktionsmittel zu investieren, stützen sie sich nun vermehrt auf den Einsatz politischer Mittel. Diese alternative Strategie kann viele verschiedene Formen annehmen, vom Einsatz der Polizei zur Zwangsräumung von Bewohnerinnen, die ihre Miete nicht bezahlen, bis hin zur Anwendung von Gesetzen zur Durchsetzung der Interessen des Finanzkapitals gegenüber seinen Schuldnern oder zur Sicherung der monopolistischen Kontrolle über die Rechte an geistigem Eigentum.
Beide Entwicklungen – der zunehmende Nullsummencharakter der Verteilung erstens zwischen den Klassen und zweitens innerhalb der kapitalistischen Klasse – sind zutiefst schädlich für liberale Demokratien. Denn diese erfordern »Toleranz« sowie die Bereitschaft, die Ergebnisse von Wahlen als legitim anzuerkennen, wie auch immer sie ausfallen.
Die kapitalistische Klasse ist die einzige ausbeutende Klasse in der Geschichte, die eine repräsentative Demokratie toleriert, in der einem bedeutenden Teil der ausgebeuteten Klasse das Wahlrecht zuteilwird. Aufgrund ihrer besonderen Stellung in den Beziehungen der Mehrwertgewinnung können Kapitalistinnen sowohl einen Wechsel der Regierungen als auch die Präsenz von Nicht-Kapitalisten im Staat tolerieren. Ihre Toleranz gegenüber demokratischen Wahlen ist jedoch streng limitiert und an Bedingungen geknüpft.
Noch nie in der Geschichte haben Kapitalistinnen einen Wahlausgang toleriert, der den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen hätte gefährlich werden können. Erschwerend kommt hinzu, dass bei stagnierender Weltwirtschaft die Investitionsraten sinken und damit ein Nullsummenkonflikt eintritt – sowohl unter den Kapitalisten als auch zwischen Kapitalistinnen und Produzenten.
Was auch immer ein wiederauflebender demokratischer Sozialismus und ein kriselnder Kapitalismus sonst noch bedeuten mögen – sie verheißen jedenfalls nichts Gutes für die Zukunft des »Wettbewerbs der Eliten«. Ob sie zur Errichtung einer sozialistischen Demokratie jenseits des Kapitalismus führen könnten, ist eine ganz andere Frage.